3. "Friedliche Koexistenz" und Ansätze zu einer neuen Deutschlandpolitik
Bis zur Bildung der Großen Koalition war es die Linie der deutschen Außenpolitik gewesen, die DDR außenpolitisch zu isolieren und auf den Zusammenbruch des zweiten deutschen Staates zu warten. Seit der inneren Stabilisierung der DDR mit dem Mauerbau und seit den mit der Beilegung des Kubakonflikts einhergehenden Entspannungsbemühungen zwischen den bei den Supermächten stand auch die Bundesregierung vor der Aufgabe, ein neues Verhältnis zu Osteuropa suchen und ihre bisherige Leitlinie, die Hallstein-Doktrin1 überdenken zu müssen. Noch unter der letzten Regierung Adenauer hatte Außenminister Schröder (CDU) eine sogenannte "Politik der Bewegung" eingeleitet und während der Ära Erhard fortgesetzt. Unterstützt wurde diese Politik zur Herstellung verbesserter Beziehungen zu Osteuropa durch einen zunehmenden weltpolitischen Entspannungsprozeß, der im Rahmen der NATO 1967 zur Annahme des „Harmel- Berichts"2 führte und 1968 zum "Signal von Reykjavik", dem Vorschlag einer beiderseitigen und ausgewogenen Truppenverminderung in Mitteleuropa.
Eine Modifizierung der Hallstein-Doktrin nach der Bildung der Großen Koalition erleichterte Fortschritte in der deutschen Ostpolitik. Diplomatische Beziehungen der Ostblockstaaten zur DDR sollten aufgrund der Abhängigkeit dieser Staaten von Moskau nicht mehr als Ausdruck einer gegen die Bundesrepublik gerichteten Politik gelten. Das ermöglichte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Rumänien und die Wiederaufnahme solcher Beziehungen zu Jugoslawien. Doch auch jetzt stand der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit anderen osteuropäischen Staaten sowie dem Abschluß eines Gewaltverzichtsabkommens mit der Sowjetunion neben Maximalforderungen der östlichen Seite (völkerrechtliche Anerkennung der DDR und Umwandlung West-Berlins in eine selbständige politische Einheit) das westdeutsche Festhalten an der Nichtanerkennung eines zweiten deutschen Staates (in Verbindung mit einem Alleinvertretungsanspruch) und der Oder-Neiße-Linie als endgültiger polnischer Westgrenze entgegen.
Einen Rückschlag in der Entspannungspolitik und beim Ausbau der ostpolitischen Beziehungen brachte der Einmarsch von Truppen der Warschauer Paktstaaten in die CSSR im August 1968 zur Niederschlagung des „Praqer Frühlings" und die aus diesem Anlaß verkündete „Breschnew-Doktrin"3.
Gleichwohl blieb das Streben nach Entspannung und die Politik der "friedlichen Koexistenz" zwischen Ost und West auf der Tagesordnung der internationalen Politik, insbesondere nach dem Wechsel in der amerikanischen Administration zu Präsident Nixon und Außenminister Kissinger (ab Januar 1969). Auch von der Bundesrepublik wurde der Entspannungskurs beibehalten. Sie unterstützte den 1968 von der östlichen Seite aufgeworfenen Gedanken einer europäischen Sicherheitskonferenz und setzte während des ganzen Jahres 1969 den Meinungsaustausch mit der Sowjetunion über einen Gewaltverzichtsvertrag fort, wobei die verschärften sowjetisch-chinesischen Spannungen offenbar die Verhandlungsbereitschaft der Sowjetunion vergrößert hatten. Ein erfolgreicher Abschluß dieser Initiativen wurde allerdings erst nach dem politischen Machtwechsel in Bonn im Herbst 1969 möglich.
Bundeskanzler Kiesinger zu den Grundsätzen der Deutschland- und Ostpolitik der Großen Koalition in seiner Regierungserklärung vom 13. 12. 1966
Deutschland war jahrhundertelang die Brücke zwischen West- und Osteuropa. Wir möchten diese Aufgabe auch in unserer Zeit gern erfüllen. Es liegt uns daran, das Verhältnis zu unserem östlichen Nachbarn, die denselben Wunsch haben. auf allen Gebieten des wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Lebens zu verbessern und, wo immer dies nach den Umständen möglich ist auch diplomatische Beziehungen aufzunehmen. In weiten Schichten des deutschen Volkes besteht der lebhafte Wunsch nach einer Aussöhnung mit Polen, dessen leidvolle Geschichte wir nicht vergessen haben und dessen Verlangen, endlich in einem Staatsgebiet mit gesicherten Grenzen zu leben, wir im Blick auf das gegenwärtige Schicksal unseres eigenen geteilten Volkes besser als in früheren Zeiten begreifen. Aber die Grenzen eines wiedervereinigten Deutschlands können nur in einer frei vereinbarten Regelung mit einer gesamtdeutschen Regierung festgelegt werden, einer Regelung, die die Voraussetzungen für eine von bei den Völkern gebilligtes, dauerhaftes und friedliches Verhältnis guter Nachbarschaft schaffen soll. Auch mit der Tschechoslowakei möchte sich das deutsche Volk verständigen. Die Bundesregierung verurteilt die Politik Hitlers, die au fdie Zerstörung des tschechoslowakischen Staatsverbandes gerichtet war. Sie stimmt der Auffassung zu, daß dasunter Androhung von Gewalt zustandegekommene Münchener Abkommen nicht mehr gültig ist. ...
Auch diese Bundesregierung betrachtet sich als die einzige deutsche Regierung, die frei, rechtmäßig und demokratisch gewählt und daher berechtigt ist, für das ganze deutsche Volk zu sprechen. Das bedeutet nicht, daß wir unsere Landsleute im anderen Teil Deutschlands, die sich nicht frei entscheiden können, bevormunden wollen. Wir wollen, soviel an uns liegt, verhindern, daß die beiden Teile unseres Volkes sich während der Trennung auseinanderleben. Wir wollen entkrampfen und nicht verhärten, Grüben überwinden und nicht vertiefen. Deshalb wollen wir die menschlichen, wirtschaftlichen und geistigen Beziehungen mit unseren Landsleuten im anderen Teil Deutschlands mit allen Kräften fördern. Wo dazu die Aufnahme von Kontakten zwischen Behörden der Bundesrepublik und solchen im anderen Teil Deutschlands notwendig ist, bedeutet dies keine Anerkennung eines zweiten deutschen Staates. Wir werden diese Kontakte von Fall zu Fall so handhaben, daß in der Weltmeinung nicht der Eindruck erweckt werden kann, als rückten wir von unserem Rechtsstandpunkt ab ....
Die Bundesregierung will alles tun, um die Zugehörigkeit Berlins zur Bundesrepublik zu erhalten, und gemeinsam mit dem Senat und den Schutzmächten prüfen, wie die Wirtschaft Berlins und seine Stellung in unserem Rechtsgefüge gefestigt werden können. Wir wollen, was zum Wohle der Menschen im gespaltenen Deutschland möglich ist, tun und, was notwendig ist, möglich machen.
1 Hallstein-Doktrin: Eine nach dem damaligen Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Walter Hallstein, benannte Doktrin der Bundesrepublik (1955), die den Abbruch diplomatischer Beziehungen mit jenen Staaten - ausgenommen die Sowjetunion - vorsah, die die DDR völkerrechtlich anerkannten.
2 Harmel-Bericht: s. S. 255. Dok. Nr. 10
3 Breschnew-Doktrin: Ein 1968 von der Sowjetunion formuliertes außenpolitisches Prinzip, wonach bei Gefährdung des Sozialismus in einem sozialistischen Staat die sozialistische Staatengemeinschaft das Recht bzw. die Pflicht zur auch militärischen Intervention habe (eingeschränkte Souveränität sozialistischer Staaten).
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