Rede des SDS-Bundesvorstandsmitgliedes Hans-Jürgen Krahl gegen die Notstandsgesetzgebung auf einer vom DGB-Hessen veranstalteten Kundgebung auf dem Römerberg in Frankfurt am 27. Mai 1968
Die Demokratie in Deutschland ist am Ende, die Notstandsgesetze stehen vor ihrer endgültiger Verabschiedung. Trotz der massenhaften Proteste aus der Reihen der Arbeiter, Studenten und Schüler, trotz der massiven Demonstrationen der APO in den letzten Jahren sind dieser Staat und seine Bundestagsabgeordneten entschlossen, unsere letzten spärlichen demokratischen Rechtsansprüche in diesem Land auszulöschen. Gegen alle diejenigen - Arbeiter oder Studenten -, die es künftig wagen werden, ihre Interessen selbst zu vertreten, werden Zwang und Terror das legale Gesetz des Handelns der Staatsgewalt bestimmen. Angesichts dieser Drohung hat sich in den Betrieben, an den Universitäten und Schulen seit dem Tag der Zweiten Lesung vor mehr als einer Woche eine erste Streikwelle manifestiert, die den Widerstandswillen der Bevölkerung demonstriert.
Für uns ergeben sich daraus die Fragen. Welchen politischen Zweck muß dieser Widerstand verfolgen, wenn die Notstandsgesetze doch schon eine nahezu beschlossene Sache sind? Welchen Erfolg können unsere Streiks und Demonstrationen der letzten Zeit aufweisen und wie können sie wirkungsvoll fortgesetzt werden? Um diese Frage angemessen beantworten zu können, müssen wir wissen, welche Fehler in der Notstandsopposition in den letzten Jahre begangen wurden.
Zu Beginn dieses Opposition hat man die Frage der Notstandsgesetze nur nach ihrer verfassungsrechtlichen Seite behandelt. Um sie zu verhindern, wurde lediglich mit den SPD-Abgeordneten und Gewerkschaftsfunktionären verhandelt. Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit war wenig wirksam. Der eigentliche Fehler bestand darin, daß dadurch die Problematik der Notstandsgesetzgebung aus der wirklichen Entwicklung der bundesrepublikanischen Gesellschaft herausgelöst wurde. Vor allem die Gewerkschaften reagierten, als sei die Substanz der Demokratie in Westdeutschland unversehrt, und sie wollten nicht sehen, daß der Prozeß der inneren Zersetzung demokratischer Rechte längst begonnen hatte. Spätestens mit der Bildung der Großen Koalition und ihrer Wirtschaftspolitik der Konzertierten Aktion des Ministers Schiller lag diese Entwicklung offen zutage. Daß im Programm der Formierten Gesellschaft1 zwischen eier Gewalt der Notstandsgesetze und der Konzertierten Aktion ein Zusammenhang bestehen könnte, ist den wenigsten Gewerkschaftsfunktionären, am wenigsten der Spitze einsichtig geworden. Die Rededisposition. die der DGB zum 1. Mai dieses Jahres herausgegeben hat, feiert die Konzertierte Aktion als Mittel des wirtschaftlichen Aufschwungs und Wachstums, ohne allerdings zu fragen, wem er zugute gekommen ist.
Die Konzertierte Aktion liefert einer starken, keineswegs demokratischen Staatsgewalt die Mittel, die Wirtschaftskrise 1966/67 - zur Zeit der Bildung der Großen Koalition - zu regulieren, nachdem Erhards Wirtschaftswunder in sich zusammengefallen war. In wessen Interesse Schillers Konzert gespielt wird, darüber geben nüchterne Zahlen Auskunft: dieses Jahr soll den Arbeitern eine Lohnerhöhung von 3 bis 4 Prozent bringen, den Unternehmern hingegen eine Gewinnsteigerung von 20 Prozent. Der DGB hat verschwiegen, daß er ein Spiel mitspielt, daß auf dem Rücken der Arbeiter ausgetragen wird.
Es war allerdings voraussehbar, daß die Konzertierte Aktion auf die Dauer nicht ausreichen würde, die Krisenentwicklung in der Wirtschaft zu bremsen und die Arbeiter zum Streikverzicht anzuhalten. Dazu bedurfte es stärkere Zwangsmittel; die Große Koalition entschloß sich also, die Notstandsgesetzgebung beschleunigt zu betreiben. Sie liefert das terroristische Instrument für eine offene Wirtschaftskrise, in der die Arbeiter notfalls mit brutaler Gewalt niedergehalten werden und die aufbegehrenden Studenten einer von oben betriebenen Hochschulreform unterworfen werden, in der die Universität zu einer Ausbildungskaserne für Fachidioten wird. Die Konzertierte Aktion war der Anfang, die Notstandsgesetze bilden das Ende einer vorläufigen Entwicklung, in der sich eine undemokratische Staatsgewalt die Mittel schuf die Bedürfnisse der Massen zu unterdrücken. Die Geschichte, nicht zuletzt die der Deutschen, hat uns mehrfach gelehrt, daß der einzige Ausweg der kapitalistischen Wirtschaftsordnung aus der Krise in der offenen Gewalt des Faschismus besteht. ...
Worauf kommt es in dieser Situation für uns an? Unsere Aktionen, unsere Streiks und Demonstrationen haben einen Sinn, wir müssen eine neue Phase unserer Politik eröffnen; unsere Demonstrationen sind längst kein bloßes Protestieren mehr, wir müssen durch gemeinsame Aktionen eine breite kämpferische Basis des Widerstandes gegen die Entwicklung schaffen. an
deren Ende sonst wieder Krieg und KZ stehen können. Unser Kampf gegen den autoritärbevormundenden Staat von heute verhindert den Faschismus von morgen. Wir haben nur eine einzige Antwort auf die Notstandsgesetze zu geben: wenn Staat und Bundestag die Demokratie vernichten, dann hat das Volk das Recht und die Pflicht, auf die Straße zu gehen und für die Demokratie zu kämpfen ....
1 Formierte Gesellschaft: Ein von Bundeskanzler Erhard seinerzeit propagiertes gesellschaftspolitisches Leitbild, das die Notwendigkeit der Zurückdrängung überwuchernder Gruppeninteressen durch eine kooperative Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Kräften bei Stärkung der staatlichen Autorität zum Zwecke gemeinschaftlicher Zukunftssicherung postulierte.
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