4. Hypotheken der Vergangenheit
Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen. Aus einer Dokumentation des Leiters der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen Ludwigsburg, Leitender Oberstaatsanwalt Adalbert Rückerl, vom Dezember 1978
In den Jahren 1948 und 1949 hatte die Zahl der erfolgreichen Verfahrensabschlüsse mit 1819 bzw. 1523 rechtskräftigen Verurteilungen ihren Höhepunkt erreicht. Sie fiel in den folgenden Jahren bis 1955 rasch ab. In diesem Jahr kam es lediglich noch zu 21 rechtskräftigen Verurteilungen, davon einer zu lebenslangem Zuchthaus. Dieser Rückgang ist zum Teil auf die im Jahre 1950 eingetretene Verfolgungsverjährung aller minderschweren, mit einer Höchststrafe von fünf Jahren Freiheitsentzug bedrohten Straftaten zurückzuführen.
Außerdem war auch in den Jahren nach] 950 die Zahl der bei den Strafverfolgungsbehörden erstatteten Anzeigen erheblich zurückgegangen. Ein großer Teil der Ermittlungs- und Strafverfahren war nach 1945 auf Grund von Anzeigen der in den Lagern untergebrachten Verfolgten des NSRegimes in Gang gekommen. Da zahlreiche Insassen dieser Lager bis etwa 1950 ins Ausland emigriert und andere nach der im Jahre 1948 erfolgten Währungsreform mit dem Aufbau einer wirtschaftlichen Existenz beschäftigt waren, erlahmte offenbar weitgehend das Interesse dieser Kreise an der Durchführung der Strafverfahren.
Von Amts wegen wurden nur in wenigen Fällen Ermittlungen eingeleitet. Die Staatsanwälte waren in der Regel nach wie vor mit der Bewältigung der aktuellen Alltagskriminalität bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit belastet. Erfuhr einer von ihnen durch die Presse, durch die in jenen Jahren stark aufkommende sogenannte "KZ-Literatur" oder - abgesehen von einer förmlichen Strafanzeige - auch auf anderem Wege von einem beispielsweise in Polen oder in Rußland begangenen Verbrechen so sah er noch keinen Anlaß, von Amts wegen tätig zu werden. Der Tatort lag außerhalb seines örtlichen Zuständigkeitsbereichs; Anhaltspunkte dafür, daß sich die zumeist noch nicht einmal namentlich bekannten Täter ausgerechnet in seinem Bezirk aufhalten könnten, lagen nicht vor. Aber auch manches bereits eingeleitete, objektiv durchaus erfolgsträchtige Verfahren endete seinerzeit mit einer Einstellung, weil es dem dafür zuständigen Staatsanwalt oft an den zur Aufklärung eines NS-Verbrechens erforderlichen zeitgeschichtlichen Kenntnissen fehlte und er deshalb vor den ihm unüberwindbar erscheinenden Beweisschwierigkeiten kapitulierte. Gegenüber einem mit den organisatorischen Zusammenhängen, insbesondere mit der zur Tatzeit bestehenden polizeilichen Befehlsstruktur nicht vertrauten Ermittlungsbeamten oder Staatsanwalt konnte ein Beschuldigter oft genug mit einem schlichten Bestreiten der gegen ihn erhobenen Vorwürfe erreichen daß das Verfahren mangels hinreichenden Schuldbeweises eingestellt wurde. Begünstigt wurde dies noch dadurch, daß manche dieser Beschuldigungen so unfaßbar erschienen, daß es einem rechtlich denkenden Menschen ohnehin schwer fiel zu glauben, daß sich solche Dinge überhaupt zugetragen haben könnten ...
5866 Personen waren auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland seit 1945 bis zum Ende des Jahres 1955 wegen ihrer Beteiligung an nationalsozialistischen Straftaten durch deutsche Gerichte verurteilt worden. Im Frühjahr 1955 war inzwischen die zehnjährige Verjährungsfrist für solche Straftaten abgelaufen, die das Gesetz mit einer Freiheitsstrafe bis zum Höchstmaß von zehn Jahren bedroht. Das bedeutete, daß künftig nur noch vorsätzliche Tötungsdelikte strafrechtlich verfolgt werden konnten.
Zur gleichen Zeit - am 5. Mai 1955 - traten der zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den USA, Großbritannien und Frankreich geschlossene "Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen" (sogen. überleitungsvertrag) und das Gesetz der Alliierten Hohen Kommission A-37 betreffend die "Beseitigung der Wirksamkeit und Aufhebung bestimmter Vorschriften des Besatzungsrechts" in Kraft. Mit ihnen wurden praktisch die letzten auf strafrechtlichem Gebiet für die deutsche Justiz noch bestehenden Beschränkungen aufgehoben. Eine bedeutsame Ausnahme enthält jedoch die Bestimmung des Artikels 3 Absatz 3b des Überleitungsvertrages, demzufolge deutsche Gerichte die ihnen nach deutschem Recht zustehende Gerichtsbarkeit ausüben dürfen,
" ... in Strafverfahren gegen natürliche Personen, es sei denn, daß die Untersuchung wegen der angeblichen Straftat von den Strafverfolgungsbehörden der betreffenden Macht oder Mächte endgültig abgeschlossen war oder diese Straftat in Erfüllung von Pflichten oder Leistung von Diensten für die Besatzungsbehörden begangen wurde."
Die letztgenannte Bestimmung hatte auf die später vor deutschen Gerichten geführten NS-Prozesse nicht zu unterschätzende psychologische Auswirkungen. Hohe NS-Funktionäre, gegen die von britischen, französischen oder amerikanischen Strafverfolgungsorganen wegen bestimmter Taten Untersuchungen geführt worden waren, deren Verfahren jedoch damals mangels ausreichender Beweise eingestellt werden mußten, können wegen dieser Taten selbst dann, wenn der Schuldbeweis heute zu erbringen wäre, nicht mehr vor Gericht gestellt werden. Ehemalige Führer von Einsatzgruppen und Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD, die vom amerikanischen Militärgerichtshof in Nürnberg im sogenannten "Einsatzgruppen-Prozeß" verurteilt und später begnadigt wurden, befanden sich um die Mitte der 50er Jahre (spätestens 1958) in Freiheit und konnten nicht weiter zur Rechenschaft gezogen werden. Ihre damaligen Untergebenen wurden dagegen in den darauffolgenden Jahren vor Gerichte gestellt und in mehreren Fällen zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt.
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