Jüdischer Bericht über die Blutlüge von Trient, 1475
Der Mond hüllte sich in Dunkel (es war eine totale Mondfinsternis) in der Nacht vor dem 15. Nissan (Donnerstag, 23. März) im Jahre 5235, d. i. im Jahre 1475. In jener Zeit, am Mazzotfeste, erschlug der Bösewicht Enzo in Trient in Italien ein zweijähriges Kind, namens Simon, und warf es insgeheim in den Teich am Hause des Juden Samuel, ohne dass es jemand gesehen hatte. Da beschuldigten sie die Juden nach ihrer Gewohnheit und begaben sich auf Geheiß des Bischofs in deren Häuser, kehrten aber, da sie das Kind nicht fanden, bald wieder heim. Als es jedoch später gefunden wurde, gingen sie auf Befehl des Bischofs hin, das Kind an Ort und Stelle zu besichtigen, worauf er alle Juden ergreifen ließ und ihnen das Leben unerträglich machte. Man folterte sie, so dass sie gestanden, was ihnen niemals zu tun in den Sinn gekommen war. Nur ein alter, sehr betagter Mann, namens Mosche, bekannte jene schändliche Unwahrheit nicht und starb unter den Schlägen. Vergilt ihm, o Gott, seine Frömmigkeit!
Zwei gelehrte, gesetzeskundige Christen aus Padua waren hingekommen, um zu erfahren, welche Bewandtnis es mit der Sache habe, aber der Zorn der Bewohner des Landes ward wider sie rege, und man wollte sie töten. Hierauf verurteilte der Bischof die Juden, man machte ihnen das Leben unerträglich, indem man sie mit Zangen zwickte und dann verbrannte, so dass ihre reine Seele zum Himmel emporstieg, worauf der Bischof, seinem Plane gemäß, sich alle ihre Habe zueignete und seine Wohnung mit Zerrissenem (Beute) füllte. Alsdann hieß es, das Kind sei heilig und tue Wunder. Der Bischof ließ dies auch in allen Ortschaften bekanntmachen, worauf das Volk sich herandrängte, es zu sehen, und man kam dabei nicht mit leeren Händen. Es erfüllte damals die Bevölkerung des Landes Hass gegen die Juden überall, wo sie wohnten, und man mochte nicht freundschaftlich mit ihnen reden. Später forderte der Bischof den Papst auf, das Kind heiligzusprechen, da es sich heilig erwiesen habe, worauf der Papst einen seiner Kardinäle, der den Titel Legat führte, hinschickte, damit er die Sache genau untersuchen sollte.
Als dieser gekommen war, die Sache untersuchte und genau er-forschte, sah er, dass es eitles Blendwerk und Torheit war, und auch die Leiche des Kindes untersuchte er, und siehe da, sie hatten sie mit Gewürzen und Leichenparfümerien einbalsamiert. Hierauf spottete er ihrer, und als er in Gegenwart des Volkes die ganze Sache für unwahr erklärte, wurde der Zorn des Volkes gegen ihn rege, so dass er vor ihnen fliehen und sich in eine in der Nähe von Trient gelegene Stadt zurückziehen musste. Dann ließ er sich die Akten über das, was jene armen Juden eingestanden hatten und was über sie beschlossen worden war, bringen. Hierauf ließ er einen der Diener jenes Bösewichts, der das Kind ermordet hatte, ergreifen, der dann auch gestand, dass jene Schändlichkeit auf Befehl des Bischofs verübt worden sei, welcher die Juden zu verderben beabsichtigt hätte. Diesen Diener führte er mit nach Rom, berichtete demgemäß dem Papste, der daher auch das Kind nicht heiligsprach, wie der Bischof tagtäglich von ihm begehrt hatte. Man nannte das Kind bea(tus) Simon; sanctus jedoch wird es noch bis auf den heutigen Tag nicht genannt.
R. Joseph Hakohen „Emek habacha” Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 114-115
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.