Josel beschreibt hier die Ereignisse der Jahre 1545/46 und darüber hinaus aus jüdischer Sicht. Man erkennt eine starke Identifizierung Josels mit den Anliegen des Kaisers, Eine so deutliche Parteinahme für den Kaiser wäre einige Jahre zuvor nicht wahrscheinlich gewesen. Es scheint, als glaubte Josel, dass der Ausgang des ausgetragenen Schmalkaldischen Kriegs das Schicksal der Juden im Reich besiegeln würde.
Die Verfolgungen und die Bedrohung durch die protestantischen Fürsten und Theologen der vergangenen Jahre brachten Josel, wie es scheint, zur Erkenntnis, dass jedweder Annährungsversuch der Juden an die Protestanten zum Scheitern verurteilt war. Er gelangte deswegen zur Überzeugung, dass nur der Kaiser die Existenz und den Schutz der Juden im Reich garantieren konnte. Deswegen setzte er darauf, die Nähe zu ihm zu suchen. Das hat sich auch gelohnt, denn Josel bekam, laut eigener Aussage, ein Privileg von der Sorte, wie wir von keinem anderen Kaiser oder König zuvor erhalten haben. Das Privileg, das Josel erwähnt, ist das große Speyerer-Privileg von 1544. Es überrascht hier zu erfahren, dass das Dokument, obwohl auf den 03.04.1544 datiert, erst 1546 in Regensburg den Juden überreicht worden sein soll.
Dass die Lage der Juden trotz der neuen Privilegien prekär blieb, zeigen uns die Übergriffe der spanischen, kaiserlichen Truppen, die eine weitere Einmischung des Kaisers zugunsten der Juden erforderten. Auch die Abschlussworte des Berichts sprechen davon, dass Gott die Juden zweimal, also vor beiden Konfliktparteien bewahrte und rettete. Mit seinen Beschreibungen vermittelte Josel, wie die Juden die Stimmung im Reich wahrnahmen, die als eine tiefe Unsicherheit charakterisiert werden kann.
Übersetzung (Nach Fraenkel-Goldschmidt und I. Kracauer)
Im Jahre 5306 (1545/6) kam unser Herr, der Kaiser nach Regensburg und befahl alle Fürsten und Herzöge dorthin zu kommen, um am Reichstag teilzunehmen, und ihre Auseinandersetzungen und ihre Streitigkeiten bezüglich Glaubensfragen beizulegen. [1] Obwohl die meisten von ihnen [2] kamen, die zwei Herrscher von Sachsen und Hessen [3], erbitterten und entrüsteten [4] den Kaiser, und sie und ihre Anhänger verhielten sich rebellisch; Sie revoltierten gegen ihn seit einigen Jahren. Inzwischen bemühte ich mich um neue Privilegien [5] und Berechtigungen [6] von der Art, wie wir sie von keinem anderen Kaiser oder König zuvor erhalten haben.
Bereits in Speyer versprachen mir der Kaiser und seine Berater, diese zu erteilen, und während dieses Reichstags [7] zu Augsburg drängte ich die Berater [8], ihr Versprechen zu halten. Und, in der Tat, mit Gottes Hilfe, wurden sie von kaiserlicher Hand niedergeschrieben und mit dessen Siegel versehen. Bald darauf beschloss der Kaiser, Kräfte zu sammeln und einen Krieg gegen die genannten Fürsten zu führen.
Dann kamen die Menschen, deren Sprache man nicht versteht [9] – die Spanier – und hätten die Juden angegriffen [10], wo der HERR nicht bei uns wäre [11], um uns zu helfen, als ich zum großen Minister – Vize zum Kaiser – Namens Granvelle kam, [und ihn darum bat], dass er für uns beim Kaiser um Schutz anflehte und ersuchte, was er auch tat. Er ging zum Kaiser und sprach zu ihm: „Seht, die Juden litten so viele Verfolgungen durch diese [12] Häretiker Lutheraner, und nun kommt euer eigenes Volk, die Spanier [13], und werde sie angreifen, ungeachtet die neuen Privilegien, die ihr ihnen [den Juden] erteilt habt“.
Und der Kaiser erwiderte gnädig: „Es ist ungerecht, die Juden schutzlos da stehen zu lassen. Hier sind geschriebene und unterzeichnete Verordnungen, die es mit der Androhung von Strafen verbieten, dass Soldaten aus meinen Armeen die Juden verletzen oder ihnen Leid zufügen würden, weder mit der Hand noch mit dem Fuß." [14] Darauf wurde der Befehl in allen Gegenden Deutschlands verkündet, dass jeder, der die kaiserliche Anordnung missachten würde, mit dem Tod bestraft werden würde.
Sofort kamen die Spanier zu den Juden, um Frieden mit ihnen zu schließen, und als der Kaiser zum Schlachtfeld mit seiner Armee kam, brachten die Juden [ihnen] Brot und Wein und versorgten die Kräfte mit mehr als fünfzig Wagen und Karren. Die zwei Fürsten, Sachsen und Hessen, hatten, zusammen mit allen deutschen Städten [15] große Truppen. Mehr als 100.000 Fußsoldaten [16] und gerüstete Reiter. [17] Obwohl unser Herr, der Kaiser, gerühmt sei er, nicht so eine große Armee führte wie sie, – ca. 40.000 Mann insgesamt – stand Gott ihm zur Seite, so dass er sie bis zur vollständigen Vernichtung verfolgte. Am Ende nahm er die Fürsten gefangen, die immer noch [18] in seinem Gewahrsam sind.
Und wir riefen die israelische Nation dazu auf, morgens und abends mit starker Stimme zu betten: „Unser Vater unser König“ und das Lied der Einheit [19], und in der heiligen Gemeinde zu Frankfurt [die Juden beteten], dass Gott unseren Herr, den Kaiser und Sein Volk Israel beschütze. Seine Hand ist nicht zu kurz, um die Vielen und die Wenigen zu retten [20]. Der Sieg, den der Kaiser feierte, war im Jahr 5307 (1546/7).
Und Gott vollbrachte Wunder und erstaunliche Taten für uns, dass er die israelische Nation mit seiner Gnade bewahrte und dass es fehlt nicht einer [21] [von den Juden] in diesem großen Krieg. Gott sei gesegnet, der uns nicht enttäuschte mit seiner lieben Güte und uns zweimal [22] von großen Mengen gerettet [23]. Soll Er doch weiter so tun, Amen.
[1] Offenbar fehlt hier ein Wort, wie ‚diskutieren‘ oder ‚debattieren‘.
[2] Fürsten und Stände.
[3] Kurfürst Johann Friedrich und Landgraf Philipp.
[4] Nach Jesaia 63:10.
[5] Das Privileg von 1544
[6] Deutet darauf hin, dass auch Josel während des Reichstags zu Speyer Erneuerungen seiner Rechte als Befehlshaber erhielt.
[7] Im Text: Yom Va’ad. Bezieht sich auf den Reichstag.
[8] Im Text: ha-moshlim – die Berater des Kaisers [...]
[9] Nach 5. Buch Mose 28:49.
[10] im Text: le-hafkir, lit.: „gesetzeswidrig zu handeln“. Wie C. Fraenkel-Goldschmidt in der Einleitung zu diesem Abschnitt bemerkte (S. 295), kann das bedeuten, dass die Spanier die Juden bereits angegriffen haben, oder aber dass die Juden befürchtet haben, das könnte geschehen.
[11] Nach Psalms 124:1.
[12] Im Text: me-hanei (Aramäisch)
[13] Karl V. betrachtete Spanien als seine Heimat.
[14] Genesis 41:44
[15] Die meisten Reichsstädte standen an der Seite des Schmalkaldischen Bundes.
[16] Im Text: anshei regel, eine Übersetzung des deutschen Wort ‚Fußvolk‘.
[17] Im Text: rokhvei barzelot („Eisenreiter“). Sie waren mit Eisenrüstung gewappnet. Beeinflusst vom Vers: „Darum dass sie eiserne Wagen hatten“, Richter 1:19.
[18] Bezieht sich auf die Zeit der Abfassung der Schrift, also 1547.
[19] Das Gebet „Unser Vater, unser König“ wird während der zehn Tage des Büßens [die Zeit zwischen dem jüdischen Neujahr und Yom-Kippur-Fest = Tag der Versöhnung] gesprochen. In manchen Gemeinden auch in Fastenzeiten. Die Lieder der Einheit werden tagtäglich in mehreren Gemeinden und während des Abend-Gottesdienstes des Yom-Kippur-Fest nach dem „Unser Vater, unser König“ Gebet in allen Gemeinden des Aschkenas. Die Absicht hier ist, dass die Juden intensiv beten sollten, vermutlich vom Gefühl geleitet, dass das ihr Schicksal vom Ergebnis des Kriegs bestimmt würde.
[20] Nach Jesaia 59:1: „Siehe, des HERRN Hand ist nicht zu kurz, dass er nicht helfen könne“, und 1 Samuel 14:6: „denn es ist dem HERRN nicht schwer, durch viel oder wenig zu helfen“.
[21] Numerus: 31:49.
[22] Vermutlich meint hier Josel, dass keine der Kriegsparteien den Juden Leid zufügte.
[23] Im Text: hamoni’im, hamoni’im. Die Ausdrucksweise vermittelt die Totalität des Kriegs in Deutschland.
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