1989: Eine Revolution im klassischen Verständnis. Aus einem Leitartikel des Journalisten Gustav Seibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. Dezember 1989
Was bedeuten die Ereignisse dieses Jahres im Zusammenhang der europäischen Geschichte? Jedenfalls handelt es sich um eine Revolution, wenn man darunter den Zusammenbruch von alter Legitimität und die dadurch notwendige Neubegründung von Staatsordnungen versteht ... Es handelt sich um Revolutionen im klassischen Verständnis.
Die osteuropäische Revolution ist keine Revolution im marxistischen Sinne. Nirgendwo ist sie Ausdruck von Klassenkonflikten, auch wenn soziale und ökonomische Probleme eine bedeutende Rolle spielen ... Es geht nicht um Utopien und ferne Geschichtsziele, sondern um Ziele, die, wie unvollkommen auch immer, an einigen Stellen der Welt längst verwirklicht sind: die selbstverständliche Achtung der grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte, die im Jahre 1789 endgültig formuliert wurden. Es geht um die Abschaffung der Folter, um Rede- und Versammlungsfreiheit, um Rechtsstaat, um Freizügigkeit, um all jene Sicherungen, die den einzelnen vor dem Terror von Staat und Kollektiv bewahren. Und es geht um die nationale Selbstbestimmung ...
Trotzdem ist die politisch-bürgerliche Revolution des Jahres 1989 in einem Punkt wesentlich verschieden von ihrer Vorläuferin von 1789. Niemand kann mehr an ihre geschichtliche Gesetzmäßigkeit glauben. 1789 meinten die Revolutionäre, die Bewegung der Zeit, die historische Notwendigkeit selbst, trage sie voran; sie waren der Zukunft gewiß. Revolution, das hieß zwangsläufiger Fortschritt. Wer dagegen war, durfte als Reaktionär ausgeschaltet werden. Revolution wurde zum aktivistischen Pflichtbegriff der seinen Inhaber ins Recht setzte, auch wenn er geltendes Recht brach ...
Nach dem zwanzigsten Jahrhundert weiß man: Das Rad kann überall und zu jedem Zeitpunkt wieder zurückgedreht werden. Der Rückfall in die Barbarei kann sich immer als geschichtlicher Fortschritt maskieren. Es gibt keine Sicherheit und deshalb kein Recht mehr, das Recht zu brechen. Jetzt zählt nur noch, was hier und heute Wirklichkeit ist, ob Menschen in den Folterkammern sterben müssen oder ob sie frei atmen können.
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