Leipzig ist der Seismograph der politischen Beben, die die DDR seit dem Frühherbst erschüttern. Sie sind nicht abgeklungen, sondern werden jetzt von einem Motiv vorangetrieben, das die Politiker in Ost und West frösteln macht: Der Ruf nach der Einheit Deutschlands wird auf den Demonstrationen von Woche zu Woche lauter.
Nicht die Lust am Protest ist es, was die Menschen mit dieser Forderung auf die Straße treibt, sondern die Sorge, die Wiedervereinigung könne unter dem Druck nationaler und internationaler Gegenkräfte auf Sankt Nimmerlein vertagt werden. Daß die Politik in beiden deutschen Staaten dazu neigt – im einen mehr, im anderen weniger -, ist unverkennbar. Die amtierende Führung der DDR unter Ministerpräsident Modrow und Parteichef Gysi hat nie ein Hehl daraus gemacht, daß sie die deutsche Einheit nicht nur nicht anstrebt, sondern ablehnt. Und der Bundeskanzler äußert sich zu seinem Mehrstufenplan nur noch verhalten. Er weigert sich, irgendeinen Zeithorizont anzugeben. seitdem Verbündete und Nachbarn ihn haben spüren lassen, wie sehr ihnen seine Pläne mißfallen. Die verbrieften Zusagen der Westmächte von einst, die deutsche Einheit zu unterstützen, sind brüchig geworden. Die Menschen auf den Straßen der DDR besitzen ein durch lange Jahre der Diktatur geschärftes politisches Bewußtsein. Sie wissen die Erklärungen auch der neuen Politiker, einschließlich der jäh zu politischem Leben erwachten ehemaligen Blockparteien und der Opposition, richtig zu deuten: Nicht nur sozialistisch soll der Staat der Zukunft sein, sondern auch eigenständig und unabhängig. Wenig Aussicht also, die bedrückenden Lebensverhältnisse grundlegend zu verbessern. Wenig Hoffnung auch, den reichen Nachbarn im Westen stärker in Anspruch nehmen zu können. Denn jeder kann sich ausrechnen, daß die Landsleute in der Bundesrepublik wenig geneigt sein werden dauerhaft einen Staat zu alimentieren, der sich selbst als "sozialistische Alternative" zur Gesellschaftsordnung des Nachbarn begreift.
Die Menschen auf den Straßen Leipzigs haben erkannt, daß nur ein gesamtdeutscher Staat sich ihrer Bedrängnisse wirksam annehmen könnte, ja müßte, wenn er denn - nach dem Verfassungs-Vorbild der Bundesrepublik - für halbwegs gleiche Lebensverhältnisse in allen Landesteilen zu sorgen gehalten wäre. Nur auf diese Weise könnten der große Ressourcen-Transfer und ein Strom von privatem Kapital, Wissen, Organisationstalent und Unternehmungsgeist in Richtung DDR in Bewegung kommen. Mit ein paar Hermes-Milliarden oder Staatskrediten und einigen inmitten der Staatswirtschaft dahin dümpelnden Gemeinschaftsunternehmen (Zauberwort: Joint ventures) ist hingegen angesichts des gigantischen Ausmaßes der Misere so gut wie nichts zu bewirken.
Das alles haben die Menschen vor Augen, die heute im Osten nach der deutschen Einheit rufen. Sie wissen um die unheilige Allianz in- und ausländischer Kräfte, die sich zum Ziel gesetzt hat jeden Schritt in diese Richtung zu verhindern. Sie wissen um das Bestreben auch der neuen Führungsschicht der DDR, quer durch fast alle Parteien und Gruppen, die entstehende Staatsstruktur zu sichern und zu befestigen. Ist das erst einmal geschehen, wird es die dringlichste Sorge der neuen Amtsinhaber und Würdenträger sein, die Zweistaatlichkeit zu konservieren.
Den zweiten Pfeiler der Allianz bilden die vier Siegermächte die sich Schritten zur deutschen Einheit entweder offen widersetzen, wie die Sowjetunion, oder mit verdeckten Karten spielen, wie die drei Westmächte. Moral und rechtliche Bindungen, zum Beispiel aus dem Deutschlandvertrag, sagen Ihnen zwar, daß sie der Selbstbestimmung der Deutschen nichts in den Weg legen dürfen. Irrationale Angste vor dem entstehenden "Koloß" und höchst rationale Konkurrenzängste vor einer effizienten gesamtdeutschen Wirtschaft lassen sie aber zögern und zu allerlei Vorbehalten und Einwänden Zuflucht nehmen. Die Rückzugsformel lautet, es dürfe "nichts überstürzt werden".
Als Dritter im Bunde wirkt seit langem die westdeutsche Linke, beheimatet vor allem bei Grünen und Alternativen sowie auf dem linken Flügel der SPD. Sie kann nicht verwinden, daß der erste Probelauf des Sozialismus auf deutschem Boden - das Experiment mit dem Realsozialismus - kläglich gescheitert ist. Ihr Ziel ist es, einen zweiten Probelaufunter günstigeren Bedingungen ins Werk zu setzen. Deshalb plädieren Politiker wie Lafontnine so vehement für die Zweistaatlichkeit.
Unter diesen Umständen und angesichts des wirksamen Drucks, der auf die politische Führung der Bundesrepublik ausgeübt wird, halten tatsächlich die Menschen in Leipzig, Dresden oder Ost-Berlin das künftige Schicksal der Nation in ihren Händen. Nur wenn wenigstens ein Teil der Gegenkräfte davon überzeugt werden kann, daß die Stimmung der geschundenen Halbnation in der DDR explosiv werden könnte, falls die Einigung weiterhin so rigoros blockiert wird, besteht Hoffnung auf Einsicht und vielleicht auch auf Umkehr. Daß dazu Geduld nötig ist, daß der Prozeß der Einigung nicht von heute auf morgen zum Ziele führt und die mißtrauischen Nachbarn geduldig von seiner Richtigkeit überzeugt werden müssen, wird niemand bezweifeln. Es geht allein darum, den Deutschen die Gewißheit zu geben, daß ihr Wunsch nach staatlicher Einheit definitiv Gehör finden wird - morgen und nicht erst an Sankt Nimmerlein.
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