2. Der Weg zur deutschen Einheit 1989-1990
Der Weg zur deutschen Einheit wurde möglich aufgrund der politisch-ökonomischen Krise der sozialistischen Staaten Osteuropas und der Sowjetunion. Sie hatte zwar in jedem dieser Staaten ihr eigenes, von den nationalen Besonderheiten geprägtes Gesicht, doch lag ihr in allen Fällen der schleichende Zusammenbruch der sozialistischen Planwirtschaft und die Reformunfähigkeit der herrschenden Parteidiktaturen zugrunde. Beider Versagen hatte auch zum Zerfall der ideologischen Hegemonie der kommunistischen Weltanschauung in diesen Ländern geführt.
Den sichtbaren Anfang einer Entwicklung, die zum Zusammenbruch der sozialistischen Ordnungen in Osteuropa führte, machte Polen, wo schon zu Anfang der achtzi.ger Jahre in Gestalt der freien Gewerkschaftsbewegung „Solidarnosc“ sich eine Gegenmacht zur kommunistischen Staatsmacht herausgebildet hatte, die durch die Verhängung des Kriegsrechts (1981) nur vorübergehend an ihrer weiteren Ausbreitung gehindert werden konnte. Einen zusätzlichen Impuls erhielt die Entwicklung In Osteuropa seit 1985 durch die Einsetzung Gorbatschows als neuen Generalsekretär der KPdSU, und zwar nicht nur durch sein Reformprogramm der Perestroika (Umgestaltung) und Glasnost (Offenheit) sondern auch durch die von ihm veranlaßte Aufhebung der Breschnew-Doktrin wodurch den osteuropäischen Ländern die gesellschaftspolitische Gestaltungsfreiheit zurückgegeben wurde. Wiederum anders als in Polen oder der Sowjetunion lagen die Dinge in der DDR. Hier waren die Gorbatschowschen Reformforderungen bei der politischen Führung auf taube Ohren gestoßen, obwohl auch in der DDR eine autoritäre Gesellschafts- und verfehlte Wirtschaftspolitik schwer auf den Menschen lastete. Der positiven Resonanz, auf die die Parolen von Perestroika und Glasnost bei den Bürgern der DDR stießen, suchte die Führung durch repressive Maßnahmen zu begegnen. andererseits sah sie sich bald immer weniger in der Lage, die oppositionellen Kräfte, die Ihre umwelt-, friedens- und gesellschaftspolitischen Anliegen vor allem im Schutz der Kirche diskutierten, bedingungslos zu unterdrücken. Nach der Fälschung der Kommunalwahlen im März 1989 stellte daher die offizielle Glorifizierung der DDR-Verhältnisse aus Anlaß der Feier des 40jährigen Gründungstages der DDR eine Provokation der Bevölkerung dar, auf die diese mit Massendemonstrationen reagierte, während zur gleichen Zeit Zehntausende über Ungarn, das seine Grenzen nach Österreich geöffnet hatte in die Bundesrepublik flüchteten.
Angesichts dieser Lage versuchte zwar eine parteiinterne Fronde durch den Sturz des starrsinnigen Generalsekretärs, Erich Honecker, den Systemerhalt zu sichern, doch scheiterte dieser Versuch an der Dynamik, die die oppositionelle Bewegung Inzwischen überall in der DDR angenommen hatte. Sehr bald verwandelte sich auch der Ruf auf den Straßen "Wir sind das Volk" in die Forderung Wir sind ein Volk". Nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 ergriff Bundeskanzler Kohl mit seinem Zehn-Punkte-Plan zur Entwicklung konföderativer Strukturen zwischen der Bundesrepublik und der DDR die politische Initiative und bereitete, auch gedrängt von der Entwicklung in der DDR selbst, zielstrebig die Einigung der beiden deutschen Staaten vor. Eine entscheidende innenpolitische Wegmarke in diesem Prozeß war der in dieser Form unerwartet klare Wahlsieg der konservativen "Allianz für Deutschland" bei den Volkskammerwahlen in der DDR am 18 März 1990, der die Voraussetzungen dafür schuf, daß die Bundesregierung und die erste frei gewählte DDR-Regierung mit Lothar de Maiziere als Ministerpräsidenten sich rasch über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zum 1. Juli 1990 und die Modalitäten des Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes am 3, Oktober 1990 verständigen konnten.
Zur außenpolitischen Absicherung des Einigungsprozesses waren Verhandlungen mit der Sowjetunion ebenso wie mit den eigenen Verbündeten erforderlich. Nachdem Gorbatschow im Februar 1990 der staatlichen Einheit Deutschlands die grundsätzliche sowjetische Einwilligung erteilt hatte, wurden die Modalitäten der Eingliederung eines geeinten Deutschlands in die internationale Staatengemeinschaft auf der Grundlage sogenannter 2 + 4-Gespräche, also von Gesprächen zwischen den vier Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkriegs und den beiden deutschen Staaten, ausgehandelt. Mit einer gemeinsamen Erklärung der Staats- und Regierungschefs der NATO- und der Warschauer-Paktstaaten im November 1990 wurde zugleich das Ende des Kalten Krieges verkündet und zeitgleich von der Pariser KSZE-Konferenz eine "Charta von Europa“ verabschiedet, die die Rückkehr Osteuropas und der Sowjetunion zu den Grundsätzen der Demokratie und der Menschenrechte bekräftigte.
Hans-Peter Schwarz: Auf dem Weg zum post-kommunistischen Europa, Auszüge aus einem im Mai 1989 publizierten Aufsatz des Bonner Politikwissenschaftlers
Das europäische Staatensystem befindet sich in einer Phase des Umbruchs. Viele Anzeichen sprechen für tektonische Verschiebungen, die die seit den fünfziger Jahren vertraute Geschichtslandschaft stark verändern könnten - vielleicht bis zur Unkenntlichkeit verändern. Immer in der Vergangenheit,
wenn sich das europäische Staatensystem fundamental verändert hat, ist es auch zu fundamentalen Neugestaltungen in Deutschland gekommen. Daher stellt sich die Frage: In welchem europäischen Koordinatensystem wird die Bundesrepublik Deutschland in absehbarer Zukunft ihren Weg suchen müssen?
Drei große Veränderungen für Europa
Drei objektive Entwicklungen in Europa erscheinen derzeit als die wichtigsten:
1. Europa erlebt den inneren Zusammenbruch des Kommunismus als Idee und als Praxis zur Organisation von Großgesellschuften. Das ist ein welthistorischer Vorgang erster Ordnung, dessen mittelfristige und langfristige Auswirkungen sich erst in Umrissen erahnen lassen. Was aus dem Zusammenbruch entsteht, ist noch nicht absehbar; aber die 40 Jahre ostmitteleurpäischer Abkoppelung von der Moderne gehen zu Ende. In der einen oder anderen Form wird es zu einer Wiedervereinigung Europas kommen.
2. Der Prozeß der europäischen Integration im EG-Rahmen hat eine Qualität erreicht, in der die beteiligten Staaten ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik - die Zentralelemente moderner Souveränität - nicht mehr autonom bestimmen können. Westeuropa befindet sich inmitten eines Entwicklungsprozesses, aus dem eine neuartige politische und wirtschaftliche Einheit entstehen muß - man kann diese nun Föderation, Union oder Konföderation nennen.
3. Parallel dazu geht das amerikanische Jahrhundert zu Ende. Die Vereinigten Staaten werden zwar weiter die stärkste Macht in der Gemeinschaft nordatlantischer Demokratien bleiben. Doch die Tage, da sie als Hegemonialmacht und alleinige Schutzmacht Westeuropas begriffen werden konnten, sind gezählt.
Die drei eben knapp skizzierten Entwicklungstrends wirken dialektisch aufeinander ein. Die Bundesrepublik Deutschland wird darauf nur dann die angemessenen Antworten finden, wenn sie diese Veränderungen in den Teilbereichen als Herausforderung eines großen, einmaligen Wandlungsprozesses begreift, in dem sich die Konturen der europäischen Staatenwelt in den Anfangen des 21. Jahrhunderts herauszuformen beginnen ....
Zusammenbruch des Kommunismus
Der innere Zusammenbruch des ost- und ostmitteleuropäischen Kommunismus, der sich heute vor aller Augen abspielt, stellt den dramatischsten Vorgang dar, den Europa seit den fünfziger Jahren erlebt hat.
Zusammenbruch des Kommunismus, was heißt das? In Polen und in Ungarn ist das marxistisch-leninistische System in allen Dimensionen zusammengebrochen: ideologisch, als wirtschaftliches Steuerungssystem, als System totalitärer Gesellschaftskontrolle durch die Staatspartei, auch als System indirekter Kontrolle zum Zweck der Sicherung sowjetischer Herrschaft. Dies heißt noch nicht, daß die kommunistische Nomenklatura ihre entscheidenden Machtpositionen geräumt hat. Aber sie ist nicht mehr in der Lage Wirtschaft Gesellschaft und die politischen Prozesse zu steuern. Die Länder sind mit den spezifisch kommunistischen Methoden nicht mehr regierbar. Und die Führungschichten der Nomenklatura müssen das offen zugeben.
. . . Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der Pluralismus nicht mehr zu unterdrücken sein, welche Rückschläge es auch immer geben wird. Und was noch wichtiger ist: Von Reformkommunismus ist kaum mehr die Rede. Hoffnung auf Reformen innerhalb des sozialistischen Systems gibt es nicht mehr. Was auf der Tagesordnung steht, ist der Aufbau post-kommunistischer Systeme. Alle Augen richten sich auf die westlichen Modelle: westlicher Rechtsstaat, westliche Menschen- und Bürgerrechte, politischer Pluralismus in vielen Formen, Marktwirtschaft in vielerlei Formen, nationale Selbstbestimmung. In der Sowjetunion liegen die Verhältnisse viel komplizierter. Das Machtmonopol der Nomenklatura ist noch ungebrochen. Wie lange das Experiment Gorbatschow dauert und wie es gegebenenfalls nach ihm weitergeht, weiß niemand. Dennoch ist der Marxismus-Leninismus auch dort aus einer Phase der Stagnation in die Phase offener Dekadenz geraten ....
Es ist eine Konsequenz dieser inneren Schwäche, daß die Sowjetunion derzeit nicht mehr in der Lage ist, den tiefgreifenden Wandel in Ostmitteleuropa zu kontrollieren. Während die Führung um Michail Gorbatschow alle Hände voll zu tun hat, um mit den fast unlösbaren Problemen im eigenen Innern fertigzuwerden , verändert sich das frühere Satellitenreich in Polen und in Ungarn bis zur Unkenntlichkeit - und Moskau muß das zulassen .... Doch wenn die Bewegung auch auf die DDR übergreift - wird sich dann die deutsche Frage nicht wieder neu stellen, und zwar, wie seit Jahren formuliert, als Teil einer grundlegenden Umgestaltung Europas? ...
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