Unerfüllte Reformversprechungen der Regierung Brandt-Scheel. Eine rückblickende Analyse von Arnulf Baring, Professor für Zeitgeschichte
Die SPD war 1969 mit dem Anspruch aufgetreten, neben einer Erneuerung der Ostpolitik auch eine Politik konsequenter Veränderungen im Inneren energisch in die Tat umzusetzen, hatte aber in dieser Hinsicht die Wählererwartungen offensichtlich enttäuscht. Bis 1972 war das unvermeidlich gewesen; die vordringliche Neue Ostpolitik und die knappen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag hatten die Regierung zwangsläufig von innenpolitischen Experimenten abgehalten. Aber auch nach den Novemberwahlen 1972 tat sich nichts. Physische Erschöpfung und lähmende Entschlußlosigkeit in der Führung bei der Koalitionsparteien hatten dazu geführt, daß das folgende Jahr trotz gesicherter parlamentarischer Grundlage in Bonn und trotz des 1973 fehlenden Risikos irgendwelcher Landtagswahlen ideenlos vorübergegangen, ungenutzt verschwendet worden war. Von einer vernunftgeleiteten Reformpolitik konnte ernsthaft keine Rede sein. Nichts hatte man wirklich in Angriff genommen: weder die Mitbestimmung noch die Steuerreform oder die inhaltliche Ausgestaltung der Bildungsreformen. Die Neuformulierung einer zeitgemäßen Verkehrspolitik war ebenso unterblieben wie die langfristige Sicherung der Energieversorgung. Überzeugende Konzeptionen des Städtebaus und des Umweltschutzes, die zur Bewahrung menschenwürdiger Lebensräume dringlich waren, ließen auf sich warten. Bei allen diesen Problemen mangelte es nicht an Vorschlägen. Wohl aber fehlte die schöpferische Phantasie und geduldige Beharrlichkeit, sie in praktische Politik umzusetzen. Müdigkeit hatte sich breitgemacht. Man wartete ab; alles wurde auf die lange Bank geschoben.
Seit dem Herbst kam hinzu, daß die Ölkrise im Gefolge des Yom-Kippur-Krieges vom Oktober 1973 die ökonomischen Voraussetzungen aller kostspieligen Reformvorhaben beseitigte. Daher zeichnete sich zum Ausklang dieses Jahres immer deutlicher ab, daß innenpolitische Ankündigungen und Versprechungen, die große Aufwendungen erforderlich machten, aber bisher nicht erfüllt worden waren, auch künftig nicht würden in die Tat umgesetzt werden können. Diese Einsicht verbreitete, zusätzlich zu den Ermüdungserscheinungen der Regierungsspitze. in den Rängen der sozialliberalen Koalition ein Klima von Ausweglosigkeit und Resignation.
Der Abschied des Bündnisses von eigenen reformpolitischen Vorstellungen hatte sich allerdings lange vor der Ölkrise angebahnt, war in mehreren Etappen sichtbar geworden. Er stand in erstaunlichem Kontrast zu dem Mut und der Entschlossenheit, die Brandt, Bahr und Scheel bei der Durchsetzung ihrer nicht weniger umstrittenen ostpolitischen Neuorientierung bewiesen hatten. Diese Ostpolitik war trotz des frühzeitig drohenden Verlustes der Bundestagsmehrheit mit Elan angepackt und durchgesetzt worden, mochte auch die FDP jahrelang am Abgrund der Spaltung und des Untergangs dahinstolpern. Dagegen litt die Regierung wirtschafts- und finanzpolitisch unter den inneren Reformen und den mit ihnen verbundenen ökonomischen Belastungen bereits zu einer Zeit, als diese Reformen lediglich angekündigt, aber noch gar nicht beschlossen worden waren und überdies von einer wirklichen Krise der Volkswirtschaft noch keine Rede sein konnte, sie ganz im Gegenteil wie nie zuvor prosperierte .... Die Rücktritte des Finanzministers Alex Möller am 13. Mai 1971 und des Wirtschafts- und Finanzministers Karl Schiller am 7. Juli 1972 waren frühe Signale, die auf ein mögliches Scheitern der Brandt-Regierung im Bereich der Reformen hindeuteten.
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