2. Politik der inneren Reformen
Die sozialliberale Koalition trat nicht nur mit einem außenpolitischen, sondern auch mit einem innenpolitischen Reformprogramm an. Unter der Parole "mehr Demokratie wagen" wurden das aktive und passive Wahlalter auf 18 bzw. 21 Jahre herabgesetzt, das Betriebsverfassungsgesetz novelliert und ein Mitbestimmungsgesetz für Großbetriebe verabschiedet. Im Mittelpunkt einer Reform der Rechtsordnung standen das Ehe- und Familienrecht sowie die Neufassung der Strafrechtsbestimmungen über den Schwangerschaftsabbruch. Nach langen parlamentarischen Beratungen und Auseinandersetzungen wurde schließlich 1976 ein neues Ehe· und Scheidungsrecht verabschiedet. An die Stelle des Schuldprinzips trat das Zerrüttungsprinzip und eine Unterhaltspflicht des jeweils wirtschaftlich stärkeren Partners.
Einen besonderen Schwerpunkt ihrer Politik sah die Regierung im Ausbau und in der Reform des Bildungswesens. Zwischen 1970 und 1975 stiegen die Bildungsausgaben real um rd. 50 Prozent an, so daß ihr Anteil am Bruttosozialprodukt von 4,1 auf 5,5 Prozent zunahm. Die Hochschulverfassungen wurden "demokratisiert" und die Schulcurricula sprachen - vor allem in den sozialdemokratisch regierten Ländern - einer "emanzipatorischen Pädagogik" das Wort.
Ähnlich wie im Bildungsbereich wurden auch die Sozialleistungen ausgeweitet und kräftig angehoben, so daß die Sozialausgaben real um 40 Prozent und ihr Anteil am Bruttosozialprodukt von 27,7 auf 33,7 Prozent anwuchsen.
Die Kritiker dieser vermehrten Lasten, die dadurch für den Staatshaushalt, den einzelnen Steuerzahler und für die Unternehmen entstanden, sahen sich bestätigt, als im Zusammenhang mit dem Rückgang der Wachstumsraten und der wirtschaftlichen Entwicklung Mitte und Ende der siebziger Jahre die Staatsverschuldung beschleunigt anstieg und die volkswirtschaftliche Investitionsquote stark abnahm. Vor allem die beschleunigte Zunahme der öffentlichen Verschuldung nötigte Bundeskanzler Helmut Schmidt in der zweiten Hälfte der sozialliberalen Regierungszeit, den vorprogrammierten weiteren Anstieg der Sozialleistungen durch eine Reihe von Haushaltssanierungsgesetzen nicht nur zu bremsen, sondern relativ zum Sozialprodukt sogar zu vermindern, wobei die FDP - vor allem Anfang der achtziger Jahre - noch stärkere Kürzungsschritte forderte. Gegenüber den hochgespannten Erwartungen, die die Koalition am Beginn ihrer Regierungszeit geweckt hatte, mußte die Ablösung der ursprünglichen Dynamik durch eine von der wirtschaftlichen Entwicklung erzwungene Konsolidierung Enttäuschungen hervorrufen, zumal auf dem Hintergrund einer wachsenden Massenarbeitslosigkeit, für deren Bekämpfung die Regierung kein wirksames Rezept mehr zu besitzen schien.
"Mehr Demokratie wagen." Aus der Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt am 28. Oktober 1969
Unser Volk braucht wie jedes andere seine innere Ordnung. In den 70er Jahren werden wir aber in diesem Lande nur so viel Ordnung haben, wie wir an Mitverantwortung ermutigen. Solche demokratische Ordnung braucht außerordentliche Geduld im Zuhören und außerordentliche Anstrengung, sich gegenseitig zu verstehen. Wir wollen mehr Demokratie wagen. Wir werden unsere Arbeitsweise öffnen und dem kritischen Bedürfnis nach Information Genüge tun. Wir werden darauf hinwirken, daß nicht nur durch Anhörung im Bundestag, (Abg. Dr. Barzel: Anhörungen?), sondern auch durch ständige Fühlungnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes und durch eine umfassende Unterrichtung über die Regierungspolitik jeder Bürger die Möglichkeit erhält, an der Reform von Staat und Gesellschaft mitzuwirken.
Wir wenden uns an die im Frieden nachgewachsenen Generationen, die nicht mit den Hypotheken der Älteren belastet sind und belastet werden dürfen; jene junge Menschen, die uns beim Wort nehmen wollen - und sollen. Diese jungen Menschen müssen aber verstehen, daß auch sie gegenüber Staat und Gesellschaft Verpflichtungen haben.
Wir werden dem Hohen Hause ein Gesetz unterbreiten, wodurch das aktive Wahlalter von 21 auf 18, das passive von 25 auf 21 Jahre herabgesetzt wird. (Beifall bei den Regierungsparteien), Wir werden auch die Volljährigkeitsgrenze überprüfen.
Mitbestimmung, Mitverantwortung in den verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft wird eine bewegende Kraft der kommenden Jahre sein. Wir können nicht die perfekte Demokratie schaffen. Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert…
Meine Damen und Herren, in unserer Bundesrepublik stehen wir vor der Notwendigkeit umfassender Reformen. Die Durchführung der notwendigen Reformen und ein weiteres Steigen des Wohlstandes sind nur möglich bei wachsender Wirtschaft und gesunden Finanzen....
Meine Damen und Herren, Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung stehen an der Spitze der Reformen, die es bei uns vorzunehmen gilt. Wir haben die Verantwortung, soweit sie von der Bundesregierung zu tragen ist, im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft zusammengefaßt….
Schwere Störungen des gesamten Bildungssystems ergeben sich daraus, daß es bisher nicht gelungen ist, die vier Hauptbereiche unseres Bildungswesens - Schule, Hochschule, Berufsausbildung und Erwachsenenausbildung - nach einer durchsichtigen und rationalen Konzeption zu koordinieren. Solange aber ein Gesamtplan fehlt, ist es nicht möglich, Menschen und Mittel so einzusetzen, daß ein optimaler Effekt erzielt wird.
Die Bundesregierung hat auf Grund des Art. 91b des Grundgesetzes eine klare verfassungsrechtliche Grundlage für eine Bildungsplanung gemeinsam mit den Ländern erhalten. Besonders dringlich ist ein langfristiger Bildungsplan für die Bundesrepublik für die nächsten l5 bis 20 Jahre. Dieser dem Bundestag und den Länderparlamenten vorzulegende Plan soll gleichzeitig erklären, wie er verwirklicht werden kann. Gleichzeitig muß ein nationales Bildungsbudget für einen Zeitraum von 5 bis 15 Jahren aufgestellt werden. (Beifall bei den Regierungsparteien). Die Bundesregierung wird in den Grenzen ihrer Möglichkeiten zu einem Gesamtbildungsplan beitragen. Das Ziel ist die Erziehung eines kritischen, urteilsfähigen Bürgers, der imstande ist, durch einen permanenten Lernprozeß die Bedingungen seiner sozialen Existenz zu erkennen und sich ihnen entsprechend zu verhalten. Die Schule der Nation ist die Schule. (Lebhafter Beifall bei der SPD und Beifall bei der FDP. - Lachen bei der CDU/CSU).
Wir brauchen das 10. Schuljahr, und wir brauchen einen möglichst hohen Anteil von Menschen in unserer Gesellschaft, der eine differenzierte Schulausbildung bis zum 18. Lebensjahr erhält. Die finanziellen Mittel für die Bildungspolitik müssen in den nächsten Jahren entsprechend gesteigert werden (Zuruf von der CDU: Wie?). Die Bundesregierung wird sich von der Erkenntnis leiten lassen, daß der zentrale Auftrag des Grundgesetzes, allen Bürgern gleiche Chancen zu geben, noch nicht annähernd erfüllt wurde. Die Bildungsplanung muß entscheidend dazu beitragen, die soziale Demokratie zu verwirklichen (Beifall bei den Regierungsparteien) ....
Die Regierung kann in der Demokratie nur erfolgreich wirken, wenn sie getragen wird vom demokratischen Engagement der Bürger. Wir haben so wenig Bedarf an blinder Zustimmung, wie unser Volk Bedarf hat an gespreizter Würde und hoheitsvoller Distanz (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien). Wir suchen keine Bewunderer; wir brauche Menschen, die kritisch
mitdenken, mitentscheiden und mitverantworten (Beifall bei den Regierungsparteien). Das Selbstbewußtsein dieser Regierung wird sich als Toleranz zu erkennen geben (Lachen bei der CDU/CSU). Sie wird daher auch jene Solidarität zu schätzen wissen, die sich in Kritik äußert. Wir sind keine Erwählten; wir sind Gewählte (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien). Deshalb suchen wir das Gespräch mit allen, die sich um diese Demokratie mühen.
Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren haben manche in diesem Land befürchtet, die zweite deutsche Demokratie werde den Weg der ersten gehen. Ich habe dies nie geglaubt. Ich glaube dies heute weniger denn je. Nein: Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an (Abg. Dr. Barzel: Aber Herr Brandt! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU). Wir wollen ein Volk guter Nachbarn sein und werden im Inneren und nach außen.
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