Studentischer Widerstand und demokratischer Verfassungsstaat. Stellungnahme des Politikwissenschaftlers Dolf Sternberger in einem Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Juni 1968
Die Bundesrepublik muß es büßen, daß Hitler zwölf Jahre lang über die Deutschen herrschen und nicht von Deutschen gestürzt werden konnte. Hitler herrschte mit Hilfe seiner verschworenen Gefolgschaft und mit Hilfe derer, welche die Sprache der nachmaligen Entnazifizierung treffend als Mitläufer bezeichnet hat. Fanatismus, Terror und Anpassung griffen ineinander. Der innere Widerstand blieb schwach, organisierte Verschwörung kam spät und endete glücklos. Die nachgeborene Generation scheint die eine Lehre gezogen zu haben, daß gegen Herrschaft immer Widerstand geboten sei. Die Söhne rächen sich für die Schwäche der Väter, Und die Bundesrepublik muß es entgelten. Obgleich dieser Staat in liberalem Geiste von denen errichtet worden ist, die an jenem Fanatismus keinen Teil hatten, die jenem Terror entronnen waren und die drinnen oder draußen je für sich dem Druck und der Versuchung widerstanden, die also auch ihre moralische Haut einigermaßen hatten retten können. Diese setzten ihren Eifer an die Erneuerung des Staates; die Söhne - oder doch ein Teil von ihnen - ereifern sich nicht für denStaat, sie ereifern sich für den Widerstand, und sie treffen gerade auf diesen Staat, der doch als Gegenbild der Tyrannei entworfen worden ist - von Leuten, welche die Tyrannei erlitten, aber ihr freilich wenig aktiven und jedenfalls keinen erfolgreichen Widerstand entgegengesetzt hatten. Nun treibt es die Söhne, den Widerstand nachzuholen.
So nimmt sich die studentische Unruhe im speziellen Zusammenhang der jüngsten deutschen Geschichte aus. Zwar gab und gibt es studentische Unruhe und Unruhen auch anderwärts, in Verfassungsstaaten, wie zumal in Amerika, und in Diktaturen und in solchen von ganz entgegengesetzer Prägung - zum Beispiel in Spanien, zum Beispiel in Polen. Die unsrigen begannen mit Forderungen zur Hochschulreform, insoweit sie sich einheimischen Problemen zuwandten; aber in den radikalen Gruppen hat sich alsbald ein Abscheu gegen das gesellschaftliche und politische System schlechthin ausgebreitet. Es geistern schwärmerische Vorstellungen von reiner Demokratie und vom Ratesystem. Vor allem jedoch wird Widerstand gefühlt, gepredigt und geübt. Hier scheint ein spezifischer Affekt im Spiel zu sein, der aus jenen deutschen Erfahrungen herrührt.
Damals gab es einen Tyrannen und wenig Widerstand. Heute gibt es viel Widerstand oder doch Widerstandsbedürfnis und keinen Tyrannen. Rudi Dutschke hat seinerzeit (bei einer Diskussion in Bad Boll) den Tyrannenmord gutgeheißen, worin ihm zuzustimmen ist, aber sogleich hinzugefügt, unsere jetzigen Regenten seien nur "auswechselbare Charaktermasken" und lohnten solchen Aufwand nicht. In einem gewissen Sinn ist ihm übrigens auch hierin zuzustimmen: Eben daß sie tatsächlich "auswechselbar" sind, unterscheidet diese Regenten von tyrannischen. Es kennzeichnet den Verfassungsstaat, daß die Regierungsämter auf Zeit anvertraut werden. Aber so hat Dutschke es wohl nicht gemeint. Fast schien es, er zöge den Tyrannen vor - dann sind die Fronten klar, man weiß, woran man ist. Aber ist darum, wo er fehlt, der Staat und der Staatsmann verächtlich?
Der heutige Widerstand, der mit einer sonderbaren und verwirrenden historischen Phasenverschiebung auftritt, trifft auf Verhältnisse, die ihn einesteils nicht verdienen, andernteils unnötig machen. So sucht sich der Abscheu seine Objekte. Der Verleger von Massenblättern wird ihm, als eine Art Ersatztyrann zur Zielscheibe. Zugleich hilft den Unmutigen ein zwar ehrwürdiger, aber dennoch absurder Sprachgebrauch der Sozialwissenschaft, auch den Verfassungsstaat. auch die Bundesrepublik als ein "Herrschaftssystem" anzusehen und ins Dämonische zu stilisieren. Die relative Undurchsichtigkeit der Verwaltungsvorgange. die Umständlichkeit der Gesetzgebung, die Vielfalt der Einflüsse, die in politische Entscheidungen eingehen, die Anonymität der Bürokratie - das alles verschmilzt dem ungeduldigen Sinn und dem argwöhnischen Blick zu einem einzigen finsteren Ungetüm, welches totale Negation herausfordert. Sie bricht jetzt aus, nachdem der Glanz der Erfolge Adenauers verblichen, das Bedürfnis nach Geltung in der Welt notdürftig saturiert, der Wohlstand langweilig geworden ist. Aufstieg ist kaum noch zu erwarten, nationale Wiedervereinigung so wenig in Sicht wie zuvor. Die Luft steht still, die Verhältnisse sind stationär, wenngleich innere Reformen drängen. Obendrein mangelt es an kräftiger parlamentarischer Opposition.
In Wahrheit ist derjenige Verfassungsstaat. den wir den demokratischen nennen, gerade kein „Herrschaftssystem". Hier herrschen gerade nicht Menschen über Menschen wie in altertümlichen Despotien oder neueren Parteidiktaturen. Unser Staat ist vor allem anderen eine Verfassungsgemeinschaft. Die Unterscheidung ist handgreiflich und elementar, zudem uralt. Aristoteles hat sie zuerst getroffen. Unsere deutsche Gesellschaftswissenschaft hat sie freilich von langer Hand verdunkelt. Auch dieses Verhängnis kommt jetzt an den Tag. Der unzeitige Widerstand bedient sich der Wörter, die geschlummert hatten, und schallt sich mit ihrer Hilfe seinen Popanz, vor allem den vom "Herrschaftssystem". Freilich eignet auch demokratisch vereinbarten Gesetzen der Charakter des Befehls, nicht bloß "autoritären" oder gar "faschistischen". Die Formel "Du sollst" kommt schon in den Zehn Geboten vor. Und was wären Gesetze wert, deren Geltung nicht erzwungen werden könnte!
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.