Ludwig Quidde, Die Antisemitenagitation und die deutsche Studentenschaft, Göttingen 1881. (Die Schrift wurde anonym veröffentlicht)
zit. nach: Der „Berliner Antisemitismusstreit” 1879-1881, bearbeitet von Karsten Krieger, Teil 2, München 2004, S. 829f., S. 840-42, S. 844-45.
Gegen Ende seines Studiums in Göttingen, neben Berlin und Leipzig eines der Zentren der antisemitischen Agitation unter den Studenten, verfaßte der junge Ludwig Quidde diese Schrift, die 1881 in zwei Auflagen erschien. Das Aufkommen des modernen Antisemitismus in Deutschland versuchte Quidde aus der allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen sowie der Orientierungskrise der Gesellschaft darzulegen. Bemerkenswert war, daß er, entgegen der damaligen Überzeugung vieler Liberaler, den Antisemitismus nicht einfach als ein letztes Rückzugsgefecht der „ewig Gestrigen” bzw. einen temporären Rückfall in die „Intoleranz des Mittelalters” auffaßte, sondern davor warnte, die Verankerung aufklärerischer Ideale in der Gesellschaft zu hoch zu bewerten. Insbesondere erklärte Quidde die Affinität der Studentenschaft gegen-über dem Antisemitismus aus dem Generationenwechsel sowie der Umprägung der politischen Kultur des Kaiserreiches: eine national-chauvinistische Generation ohne politische Vergangenheit wachse heran, deren Weltbild keinerlei Bindungen an die liberal-emanzipatorischen Ideale von 1848 mehr aufweise, deren erste politische Eindrücke statt dessen einerseits durch die deutschen Einigungskriege sowie die Glorifizierung Bismarcks, andererseits durch die als Bedrohung empfundenen Fortschritte der Sozialdemokratie so-wie durch den „Gründerkrach” und die Wirtschaftskrise geprägt seien. Die Parole jener Generation heiße „Realpolitik” gegen „Prinzipienreiterei”. Anschaulich schilderte der Autor die bierselige Atmosphäre, in der die Unterzeichnung der „Studentenpetition” vor sich gehen konnte. Quiddes Schrift, in der er sich eindeutig und überzeugend gegen den Antisemitismus aussprach, beweist persönliches Engagement, Mut und politisches Urteilsvermögen.[...]
Wer über die jetzige Antisemitenbewegung mit einem vornehmen Achselzucken glaubt hinwegsehen zu können und im Bewußtsein moderner Bildung, im Vertrauen auf das zu einem Allgemeingut gewordene Princip unbedingter Toleranz diesem „Rückfall in mittelalterlich-barbarischen Fanatismus” nur mit Spott und Hohn begegnet, ihn sonst als ungefährlich meint ignoriren zu dürfen, der ist doch wie uns scheint in einem gefährlichen Doppelirrthum befangen. Er denkt von der fraglichen Bewegung zu gering, indem er die berechtigten Elemente, die, man kann kaum sagen darin, aber doch dahinter stecken, verkennt und andererseits die Tiefe und Widerstandsfähigkeit der modernen Bildung, ihren ethischen Werth, zu hoch anschlägt. Der Quellen sind gar viele, die den Strom dieser Agitation gebildet, reine und schmutzige, und sie alle fanden sich zusammen in einem alten, wie den Meisten schien, fast ausgetrockneten Bette.
[...]
Eine der bedenklichsten Erscheinungen der ganzen Bewegung ist wohl die Aufnahme, die sie in studentischen Kreisen gefunden hat. - Die erfahrenen Politiker stehen überrascht vor der Wandlung, die sich in wenigen Jahrzehnten vollzogen hat und begreifen nicht recht, wie die heranwachsende Generation so ganz anders denkt, als sie es selbst gethan. Das tolle Jahr 1848 erscheint uns schon fast sagenhaft und den Erzählungen unserer Väter lauschen wir wie Mittheilungen aus einer fremden Welt. Der Kampf für politische Freiheit, das Hochhalten des Princips begegnet wohl noch hier und da Sympathien, vermag aber nicht mehr oder noch nicht wieder eine tiefe Erregung der Gemüther hervorzurufen. Die ersten Ein-drücke auf die Entwicklung unserer politischen Ansichten hat, - je nach dem Alter - der Krieg von 66 oder der von 70/71 gemacht. Reminiscenzen an die Conflictszeit waren in den politischen Tagesgesprächen noch lebendig, aber hoben nur um so mehr die glänzen-den Resultate der Regierungspolitik hervor, während der Ausgleich zwischen Bismarck und der Opposition als Fiasco der Principienreiterei der Letzteren erschien. Dann war die Losung des Tages Realpolitik, allgemeine Grundsätze wurden über die Achsel angesehen. Einen mächtigen Einfluß auf die Ausbildung der Ansichten übten einerseits die Fortschritte der Socialdemokratie, andererseits die folgende Gründer- und Schwindelperiode, sie wirkten natürlich auf die jugendlichen Geister, die keine politische Vergangenheit durchgemacht und darin feste Ansichten gewonnen hatten, ganz anders ein als auf die Erwachsenen. An den Universitäten zeigte dann noch der Kathedersocialismus50' große Anziehungskraft, und der ganz natürlich erwachsene Bismarckcultus verschaffte den Anschauungen der neuen Wirthschaftspolitik ebenso wie allen übrigen antidoctrinären Anschauungen Eingang. - So wächst, wenn nicht Alles täuscht, eine Generation von meist national-chauvinistischen und socialistisch angehauchten, gemäßigt conservativen Realpolitikern heran, soweit nicht eine energische Charakteranlage oder starker Einfluß durch Familien- und andere Beziehungen nach einer an-deren Richtung treiben. - Auch der politische Radicalismus ist in der jüngeren Generation meist socialistisch gefärbt. - Eine gewisse Wendung scheint in neuester Zeit eintreten zu wollen. - Da nun das jüdische Element auf den Universitäten sich immer mehr geltend machte, so wurde dem Studenten, der sich im Allgemeinen überraschend wenig um Politik bekümmert, auch wenn er seine Zeitung regelmäßig liest, die Judenfrage ad oculos demonstrirt; die allgemeine Steigerung der Abneigung machte sich auch bei ihm geltend; der jüdische Student, der sich überall hervordrängte, den man auch überall bemerkte, da man ihm antipathisch gegenüberstand, war ihm fatal, er betrachtete ihn mit einem aus Widerwillen und Mißgunst gemischten Gefühl und nun kam diese nationale Bewegung, die so viele Anknüpfungspunkte auch in seinen allgemeinen Anschauungen fand, und der Sturm brach los. Ideale Begeisterung bei den Einen verbündet sich auch hier mit recht ordinärer Gesinnung der Andern.
Man begnügte sich nicht etwa damit, auch in der Studentenschaft für die bekannte Petition Unterschriften zu sammeln, sondern setzte eine studentische Sonderpetition in Umlauf, trennte die Studentenschaft allein von der übrigen Masse des Volkes. Der Wortlaut dieser Sonderpetition stimmt mit der allgemeinen bis auf folgenden Zusatz wörtlich überein:
„Die deutsche Studentenschaft glaubt die Gelegenheit nicht vor-über gehen lassen zu dürfen, ihre Uebereinstimmung mit den in Vorstehendem zum Ausdruck gebrachten Empfindungen darzuthun, wennschon es ihre bürgerliche Stellung und ihr Standpunkt socialen Fragen gegenüber ihr vielleicht nicht gestattet, sich allen speciellen Forderungen anzuschließen.
Es geschieht dies in dem Bewußtsein, daß die Fortführung des Kampfes für die Erhaltung unserer Nationalität zu nicht geringem Theile dereinst in ihre Hand gelegt werden wird, und in der darauf fußenden Ueberzeugung, daß die Kundgebung ihrer Gesinnung an dieser Stelle und in diesem Zeitpunkt dazu beitragen wird, in den jetzt wirkenden Kreisen des Volkes die Hoffnung auf einen bleibenden Erfolg zu bestärken und ihre Schaffensfreude zu erhöhen."
Man sieht schon hieraus, die Führer der Bewegung verfolgen einen sehr bestimmten Zweck, wenn sie gerade der Studentenschaft eine hervorragende Rolle in der Bewegung zuweisen, ein steter Rückhalt, eine Garantie für dauernden Erfolg soll gewonnen und damit natürlich der ganzen Agitation ein neuer kräftiger Impuls gegeben werden. Die Unterzeichner dieser studentischen Petition übernehmen somit eine große Verantwortung und treten für viel mehr als die genannten vier Forderungen, treten für die ganze Bewegung mit all' ihren unabsehbaren Consequenzen ein [...]
Die Erfolge der studentischen Agitation sind in Süddeutschland gering, an den meisten norddeutschen Universitäten überraschend groß, hier in Göttingen z.B. wurde auf der schon erwähnten von den Gegnern der Petition einberufenen allgemeinen Studentenversammlung ein von diesen beantragter Protest mit großer Mehrheit zurückgewiesen, trotzdem sehr energisch betont war, er solle keine Demonstration für die Juden bedeuten. Da ist es hohe Zeit zur Besonnenheit und Mäßigung zu mahnen, und all die vielen Indifferenten, die da sagen „wir kümmern uns um gar nichts“, müßten sich mit denen, die die Gefahr der Agitation erkennen, zu der Erklärung vereinigen: wir wollen nicht, daß die Studentenschaft sich in diese Frage agitatorisch einmischt. [...]
Arbeitsaufträge:
- Wie charakterisiert Quidde die jüngeren Generationen des deutschen Kaiserreiches? Welche Erfahrungen waren für die jungen Deutschen dieser Zeit seiner Meinung nach prägend und was bedeutet dies für deren Einstellung zur Politik?
- Wie erklärt sich Quidde die Tatsache, dass der Antisemitismus auch unter Studenten große Verbreitung findet?
- Welche Stellung glauben die Studenten, die die Antisemitenpetition unterstützen, in der antisemitischen Bewegung einzunehmen?
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.