Theodor Mommsen, Auch ein Wort über unser Judenthum, Berlin 10. Dezember 1880
zit. nach: Der „Berliner Antisemitismusstreit” 1879-1881, bearbeitet von Karsten Krieger, Teil 2, München 2004, S. 695ff.
Als Replik auf Treitschkes Broschüre „Ein Wort über unser Judenthum”, die inzwischen in der dritten Auflage vertrieben wurde, erschien am 10. Dezember 1880 in der Weidmannschen Buchhandlung Theodor Mommsens berühmter Aufsatz „Auch ein Wort über unser Judenthum”. Schon fünf Tage später wurde die dritte Auflage, nun mit einem Nachwort Mommsens, vertrieben; bis Jahresende kam noch eine weitere hinzu. Nachdem sich nun zwei der berühmtesten Gelehrten Deutschlands gegenüberstanden, erreichte die Polarisierung der Öffentlichkeit ein Ausmaß sowie eine Intensität, die in bezug auf den Antisemitismus im 19. Jahrhundert nur noch von der „Dreyfus-Affäre” in Frankreich übertroffen wurde. Der Streit zwischen den beiden Professoren beherrschte im Dezember 1880 zunehmend die ersten Seiten der Zeitungen (Schlagzeilen und Leitartikel waren eine noch nicht durchgehend eingeführte Novität). Die jeweiligen Kommentare reflektieren zugleich den Konflikt zwischen den Verfechtern einer liberalen und denen einer national-chauvinistischen politischen Kultur innerhalb des Kaiserreiches. Das Erscheinen von Mommsens Flugschrift markierte den Höhe- und zugleich auch den Wendepunkt des Streites: Die liberale Presse schoß sich nun gänzlich auf Treitschke ein, während die Stimmen seiner Verteidiger seltener wurden. Die Waagschale begann, sich zu Ungunsten Treitschkes zu neigen. [...] Mommsens zentraler Vorwurf gegen Treitschke zielte darauf, daß dieser seine Autorität als Publizist und Hochschullehrer mißbraucht und der antisemitischen „Hetze des Tages” eine Legitimation verliehen habe, wodurch der Bewegung der „Kappzaum der Scham” abgenommen worden und diese für weite Teile des Bürgertums „salonfähig” geworden sei. [...]
[...] Die deutsche Nation ruht, darüber sind wir wohl alle einig, auf dem Zusammenhalten und in gewissem Sinn dem Verschmelzen der verschiedenen deutschen Stämme. Eben darum sind wir Deutsche, weil der Sachse oder der Schwabe auch den Rheinländer und den Pommern als seines Gleichen gelten läßt, das heißt als vollständig gleich, nicht bloß in bürgerlichen Rechten und Pflichten, sondern auch im persönlichen und geselligen Verkehr. Wir mögen den sogenannten engeren Landsleuten noch eine nähere Sympathie entgegentragen, manche Erinnerung und manches Gefühl mit ihnen theilen, das außerhalb dieses Kreises keinen Wiederhall findet; die Empfindung der großen Zusammengehörigkeit hat die Nation geschaffen und es würde aus mit ihr sein, wenn die verschiedenen Stämme je anfangen sollten sich gegen einander als Fremde zu fühlen. Wir verhehlen uns die Verschiedenheit nicht; aber wer recht fühlt, der erfreut sich derselben, weil die vielfachen Ziele und Verhältnisse des Großstaates den Menschen in seiner ganzen Mannichfaltigkeit fordern und die Fülle der in unser großes und schicksalvolles Volk gelegten Gaben und der ihm aufgelegten Verpflichtungen von keinem einzelnen Stamm ganz entwickelt und ganz gelöst werden kann.
In wie fern stehen nun die deutschen Juden anders innerhalb unseres Volkes als die Sachsen oder die Pommern? [...] Wer die Geschichte wirklich kennt, der weiß es, daß die Umwandlung der Nationalität in stufenweisem Fortschreiten und mit zahlreichen und mannichfaltigen Uebergängen oft genug vorkommt. Historisch wie praktisch hat eben überall nur der Lebende Recht; so wenig, wie die Nachkommen der französischen Colonie in Berlin in Deutschland geborene Franzosen sind, so wenig sind ihre jüdischen Mitbürger etwas anderes als Deutsche. [...]
Das ist der eigentliche Sitz des Wahnes, der jetzt die Massen er-faßt hat und sein rechter Prophet ist Hr. v. Treitschke. Was heißt das, wenn er von unsern israelitischen Mitbürgern fordert, sie sollen Deutsche werden? Sie sind es ja, so gut wie er und ich. [...]
Aber mit dieser Einsicht ist nicht genug gethan. Es muß in die Auffassung der Ungleichheit, welche zwischen den deutschen Occidentalen und dem semitischen Blut allerdings besteht, größere Klarheit und größere Milde kommen. Wir, die eben erst geeinigte Nation, betreten mit dem Judenkrieg eine gefährliche Bahn. Unsere Stämme sind recht sehr ungleich. Es ist keiner darunter, dem nicht specifische Fehler anhafteten, und unsere gegenseitige Liebe ist se gesteigert. [...] Ohne Zweifel sind die Juden, wie einst im römischen Staat ein Element der nationalen Decomposition,* so in Deutschland ein Element der Decomposition der Stämme, und darauf beruht es auch, daß in der deutschen Hauptstadt, wo diese Stämme factisch sich stärker mischen als irgendwo sonst, die Juden eine Stellung einnehmen, die man anderswo ihnen beneidet. [...]
Die gute Sitte und noch eine höhere Pflicht gebieten, die Besonderheiten der einzelnen Nationen und Stämme mit Maß und Schonung zu discutiren. Je namhafter ein Schriftsteller ist, desto mehr ist er verpflichtet, in dieser Hinsicht diejenigen Schranken einzuhalten, welche der internationale und der nationale Friede erfordert. [...]
Darin vor allem liegt das arge Unrecht und der unermeßliche Schaden, den Herr v. Treitschke mit seinen Judenartikeln angerichtet hat. Jene Worte von den hosenverkaufenden Jünglingen und den Männern aus den Kreisen der höchsten Bildung, aus deren Munde der Ruf ertönt „die Juden sind unser Unglück” - ja es ist eingetroffen, was Herr v. Treitschke voraussah, daß diese „versöhnenden Worte” mißverstanden worden sind. Gewiß waren sie sehr wohlgemeint; gewiß liegt den einzelnen Klagen, die dort erhoben werden, viel-fach Wahres zu Grunde; gewiß sind härtere Anklagen gegen die Juden tausendmal ungehört verhallt. Aber wenn die Empfindung der Verschiedenheit dieses Theils der deutschen Bürgerschaft von der großen Majorität bis dahin niedergehalten worden war durch das starke Pflichtgefühl des bessern Theils der Nation, welche es nicht bloß wußte, daß gleiche Pflicht auch gleiches Recht fordert, sondern auch davon die thatsächlichen Consequenzen zog, so sah sich diese Empfindung nun durch Herrn v. Treitschke proclamirt als die „natürliche Reaction des germanischen Volksgefühls gegen ein fremdes Element”, als „der Ausbruch eines tiefen lang verhaltenen Zornes.” Das sprach Herr v. Treitschke aus, der Mann, dem unter allen ihren Schriftstellern die deutsche Nation in ihren letzten großen Krisen den meisten Dank schuldet, dessen Feder eines der besten Schwerter war und ist in dem gewendeten, aber nicht beendeten Kampfe gegen den alten Erbfeind der Nation, den Particularismus. Was er sagte, war damit anständig gemacht. Daher die Bombenwirkung jener Artikel, die wir alle mit Augen gesehen haben. Der Kappzaum der Scham war dieser „tiefen und starken Bewegung” abgenommen; und jetzt schlagen die Wogen und spritzt der Schaum.
[...]
„Von einer Zurücknahme oder auch nur einer Schmälerung der vollzogenen Emancipation kann unter Verständigen gar nicht die Rede sein”, sagt Herr v. Treitschke; „sie wäre ein offenbares Unrecht”. Schlimm genug, daß man dergleichen schon sagen muß! Aber was die sog. Antisemitenpetition der Herren Zöllner und Genossen erbittet, ist schlimmer, als ein offenbares Unrecht; es ist ein heimliches und tückisch verdecktes. Die Juden sollen, wenn Fürst Bismarck nach Herrn Zöllners unmaßgeblicher Ansicht die Nation reformirt, von allen obrigkeitlichen (autoritativen) Stellungen aus-geschlossen werden und ihre Verwendung im Justizdienst, namentlich als Einzelrichter, eine „angemessene Beschränkung” erfahren; und das Begleitschreiben macht den Fürsten darauf aufmerksam, daß die Staatsregierung im Stande sei, diese Bitte lediglich auf dem Wege der Verwaltung ohne jede Zuziehung der gesetzgebenden Factoren zu gewähren. Also hiernach steht es den Juden auch ferner frei, die Rechte zu studiren und die Prüfungen zu absolviren, nur angestellt können sie nicht werden. Eine Rechtsschmälerung ist es freilich nicht, wenn das Recht bleibt wie es ist - nur daß davon kein Gebrauch gemacht werden kann; ein guter Beitrag zu der römischen Lehre vom nudum jus und zu der culturhistorisch interessanten Untersuchung über die Gewissensweite der neu-germanischen Orthodoxen. Sind die preußischen Universitäten, die den Namen unserer Könige tragen, gegründet als Schlingen zum Heranlocken an Stellungen, in die der Einlaß versagt wird? Ich kann es verstehen, daß ein richtiger verbissener Antisemit die gute alte Zeit zurückwünscht, in welcher der Jude nur durch das Taufbecken fähig wurde sich zur Uebernahme einer obrigkeitlichen Stellung vorzubereiten. Aber die Forderung dieser Petenten bestätigt leider den alten Satz, daß der Fanatismus ein Krebsschaden ist, welcher schließlich auch das Gefühl der Ehre und der Ehrenhaftigkeit angreift.
Die Petition kommt zur rechten Zeit. Sie öffnet jedem die Augen, wie weit wir schon sind, und wohin wir kommen müssen und kommen werden, wenn diese Fluth weiter braust. Sie ist an unserer Universität in diesen Tagen zur Unterzeichnung herumgeboten worden mit einer salvatorischen Clausel in Bezug auf „die bürgerliche Stellung und den Standpunkt” der Studenten, welche den Inhalt der Petition nicht berührt. In Bezug auf dieselbe heißt es in einem mir gedruckt, aber nicht unterzeichnet, vorliegenden Begleitbrief an die Commilitonen:
„Gegen alle Schwierigkeiten, Einwendungen und Bedenklichkeiten, die uns von irgend einer Seite erhoben werden könnten, sichert uns der unsre Stellung so bescheiden abgrenzende Zusatz. So wenigstens meint einer unsrer Herren Professoren in Berlin, der in seiner Eigenschaft als akademischer Lehrer, Staatsmann und Volksvertreter sicher in dieser Frage Autorität besitzt wie kein Zweiter. Ihn hatten wir Studenten, die wir in Berlin während der Ferien zu-erst an die Angelegenheit heran traten, um Rath gefragt, sowohl über die Opportunität einer derartigen Klausel im Speciellen, wie unseres Vorgehens im Allgemeinen, und der überaus freundliche und detaillirte Bescheid, der uns von dieser Seite wurde, schloß mit den Worten: 'Ich sehe nicht nur keinen Grund Ihnen abzurathen, sondern ich wünsche Ihnen vielmehr alles Glück dazu.‘"
[...]
Schließlich ein Wort über die Stellung der Juden selbst zu dieser leidigen Bewegung. Selbstverständlich ist unsere Nation durch Recht und Ehre verpflichtet sie in ihrer Rechtsgleichheit zu schützen, sowohl vor offenem Rechtsbruch wie vor administrativer Prellerei; und diese unsere Pflicht, die wir vor allem uns selbst schul-den, hängt keineswegs ab von dem Wohlverhalten der Juden. Aber wovor nicht wir sie schützen können, das ist das Gefühl der Fremdheit und Ungleichheit, mit welchem auch heute noch der christliche Deutsche dem jüdischen vielfach gegenüber steht und das, wie der gegenwärtige Augenblick einmal wieder zeigt, allerdings eine Gefahr in sich trägt für sie wie für uns - der Bürgerkrieg einer Majorität gegen eine Minorität, auch nur als Möglichkeit, ist eine nationale Calamität. Die Schuld davon liegt allerdings zum Theil bei den Juden. Was das Wort „Christenheit” einstmals bedeutete, bedeutet es heute nicht mehr voll; aber es ist immer noch das einzige Wort, welches den Charakter der heutigen internationalen Civilisation zusammenfaßt und in dem Millionen und Millionen sich empfinden als Zusammenstehende auf dem völkerreichen Erdball. Außerhalb dieser Schranken zu bleiben und innerhalb der Nation zu stehen ist möglich, aber schwer und gefahrvoll. Wem sein Gewissen, sei es positiv oder negativ, es verbietet dem Judenthum abzusagen und sich zum Christenthum zu bekennen, der wird dem entsprechend handeln und die Folgen auf sich nehmen; Betrachtungen dieser Art gehören in das Kämmerlein, nicht in die öffentliche Discussion. Aber es ist eine notorische Thatsache, daß eine große Anzahl von Juden nicht durch Gewissensbedenken vom Uebertritt ab-gehalten wird, sondern lediglich durch ganz andere Gefühle, die ich begreifen, aber nicht billigen kann. - Auch die zahlreichen specifisch jüdischen Vereine, wie sie zum Beispiel hier in Berlin bestehen, erscheinen mir, so weit nicht eben die jeder Discussion sich entziehende Glaubensfrage auch hier eingreift, entschieden vom Uebel. Ich würde keinem Wohlthätigkeitsverein beitreten, dessen Statuten ihn verpflichteten nur Holsteinern Hülfe zu gewähren; und bei aller Achtung vor dem Streben und dem Leisten dieser Vereine kann ich in ihrer Sonderexistenz nur eine Nachwirkung der Schutzjudenzeit erkennen. Wenn diese Nachwirkungen auf der einen Seite hin verschwinden sollen, so müssen sie es nach der andern auch; und auf beiden Seiten ist noch viel zu thun. Der Eintritt in eine große Nation kostet seinen Preis; die Hannoveraner und die Hessen und wir Schleswig-Holsteiner sind daran ihn zu bezahlen, und wir fühlen es wohl, daß wir damit von unserem Eigensten ein Stück hingeben. Aber wir geben es dem gemeinsamen Vaterland. Auch die Juden führt kein Moses wieder in das gelobte Land; mögen sie Hosen verkaufen oder Bücher schreiben, es ist ihre Pflicht, so weit sie es können ohne gegen ihr Gewissen zu handeln, auch ihrerseits die Sonderart nach bestem Vermögen von sich zu thun und alle Schranken zwischen sich und den übrigen deutschen Mitbürgern mit entschlossener Hand niederzuwerfen.
Arbeitsaufträge:
- Wie betrachtet Mommsen die Juden im Verhältnis zu anderen Gruppen im deutschen Reich?
- Worin sind die Juden anderen Gruppen in der deutschen Gesellschaft völlig gleich, worin sind sie unterschiedlich?
- Was erwartet Mommsen von den Juden? Inwieweit gleicht seine Position dabei der seines Widersachers Treitschke?
- Was macht Mommsen Treitschke zum Vorwurf?
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