Hermann Cohen, Ein Bekenntniß in der Judenfrage, Berlin 1880
Zit. nach: Der „Berliner Antisemitismusstreit” 1879-1881, bearb. von Karsten Krieger, Teil 1, München 2004, S. 337ff., S. 357-360
Ende Januar 1880 erschien das „Bekenntniß in der Judenfrage” des Marburger Neukantianers Hermann Cohen, des zukünftig führenden Kantinterpreten in Deutschland. Die Schrift wurde von den Zeitgenossen durchweg ablehnend beurteilt, woran sich bis heute nicht viel geändert hat. Auf den ersten Blick liest sich der Aufsatz wie eine Aufforderung zu totaler Assimilierung der deutschen Juden sowie als eine immerhin teilweise Anbiederung an die Überlegungen Treitschkes. Jedenfalls ging kein anderer jüdischer Gelehrter im Verlaufe des „Antisemitismusstreites” so weit wie Cohen in seiner Bereitschaft, sich mit Treitschke zu verständigen. Der Autor hatte zunächst in zwei Briefen vom 13. und 27. Dezember 1879 versucht, Treitschke von der universalen Bedeutung der jüdischen Religion zu überzeugen. Nachdem Treitschke jedoch Mitte Januar in „Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage” das Judentum als „Nationalreligion eines uns ursprünglich fremden Stammes” bezeichnet hatte und auch sonst auf die Argumente des Marburger Gelehrten nicht eingegangen war, sah sich Cohen veranlaßt, sein „Bekenntnis” zu veröffentlichen. [...]Für den Philosophieprofessor liegt das Wesen der deutschen Nationalität letztlich im Protestantismus (welcher Prägung bleibt ungeklärt) begründet. „Religion” bedeutet für den Autor einen konsequent durchdachten Monotheismus, der seine Anhänger zu sittlichem Handeln verpflichtet. Auf dieser gemeinsamen Grundlage, so Cohen, sei zwischen Juden und Christen Verständigung nicht nur möglich, sondern geboten. [...]Cohen verlangt von seinen Glaubensgenossen, ganz im „Deutschtum” aufzugehen. Damit ist ein eindeutiges Bekenntnis zur deutschen Nation, Kultur und Bildung gemeint. In dieser Forderung nach nationaler Homogenität waren sich Cohen und Treitschke tatsächlich weitgehend einig. Jedoch bedeutete „deutsch sein” für Cohen gerade nicht die Aufgabe des religiösen Bekenntnisses der Juden, sondern dessen Vertiefung und Pflege, - ganz im Gegensatz zu Treitschke, der in „Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage” beklagt hatte, daß sich „die Zahl der Uebertritte zum Christenthum [...] sehr verringert” habe. Letztlich war zwischen Cohen und Treitschke, die den Prozeß nationaler Verschmelzung auf unterschiedliche, nicht miteinander zu vereinbarende Grundlagen bauen wollten, keine Verständigung möglich.
Es ist also doch wieder dahin gekommen, daß wir bekennen müssen. Wir Jüngeren hatten wol hoffen dürfen, daß es uns allmählich gelingen würde, in die „Nation Kants” uns einzuleben; daß die vorhandenen Differenzen unter der grundsätzlichen Hilfe einer sittlichen Politik und der dem Einzelnen so nahe gelegten historischen Besinnung sich auszugleichen fortfahren würden; daß es mit der Zeit möglich werden würde, mit unbefangenem Ausdruck die vaterländische Liebe in uns reden zu lassen, und das Bewußtsein des Stolzes, an Aufgaben der Nation ebenbürtig mitwirken zu dürfen. Dieses Vertrauen ist uns gebrochen: die alte Beklommenheit wird wieder geweckt.
Denn der Angriff ist nicht nur von den culturfeindlichen Mächten ausgegangen, sondern von einem Manne, der bisher als ein Führer der nationalen Partei galt, dem wir Jüngeren alle an Verständniß und Impulsen Manches verdanken. Der Herausgeber der Preußischen Jahrbücher hat es für angezeigt gehalten, die Racenfrage gegen uns zu erheben, und zur Genugthuung und Schützung des germanischen Instinctes in Tagen der Aufregung, der Aufstachelung von Volksleidenschaften seine israelitischen Mitbürger thatsächlicher Kränkung, verschwörerischem Argwohn auszusetzen.
So lange jedoch der Stammesunterschied vornehmlich betont wurde, konnte es den Anschein haben, als gerathe diese Sache all-gemach ins Indiscutable. Denn Racen-Instincte dürften sich allerdings durch keinen Federkrieg beschwichtigen lassen. Physiognomische Probleme, als Fragen unter Bürgern desselben Staates erhoben, sind Ehrenfragen.
In den letzten Tagen hat nun aber Treitschke seine Judenfrage weiter dahin formuliert, daß er uns auf den Unterschied von Religion und Confession hinweist, die weltgeschichtlichen Kämpfe der Confessionen als „häuslichen Streit” schildert, das Judenthum als „die Nationalreligion eines uns ursprünglich fremden Stammes” bezeichnet, und somit den messianisch-humanistischen Gedanken einer „reinem Form des Christenthums” mit bestimmtester Ausdrücklichkeit gegen den israelitischen Monotheismus und seine Verschmelzbarkeit in jene „reinere Form” geltend macht.
Dem hartnäckigsten, zudringlichsten Verlangen nach Verständigung ist nunmehr der Boden entzogen. Das Bekennen wird auch im nationalen Sinne zu einer religiösen Pflicht.
[...]
Man hat es als einen Mangel des Culturkampfes bezeichnet, daß derselbe zu wenig positiv religiöse Gedanken zu seinem Inhalt gehabt habe. Ich bin allerdings der Ansicht, daß man ohne religiöse Ideen, ohne schöpferische religiöse Begeisterung den Kampf nicht zu neuen Epochen werde führen können, den der religiöse Geist des deutschen Volkes im sechszehnten Jahrhundert begonnen hat. Und ebenso bilde ich mir ein, von vaterländischer Geschichte soviel gelernt zu haben, um zu erkennen, daß das deutsche Volk ein religiöses sei, und ob aller Culturschwankungen bleiben werde.
Daraus aber ergiebt sich für die jüdische Minderheit dieses deutschen Volkes die Nothwendigkeit: der religiösen Gemeinschaft ihres Volkes sich angehörig zu bekennen und zu erweisen.
Es ist falsche liberale Schablone, welche leider von vielen Juden angenommen worden ist, daß die religiöse Form ein politisch Indifferentes sei, um das der Staat sich nicht zu kümmern habe; wenn nur die Dogmatik polizeifest sei. Es muß dagegen mit aller Macht anerkannt werden, daß in solchen Wendungen nur aus der Noth eine Tugend gemacht wird; daß solche temporäre Schlagworte durch eine grundsätzliche Problemstellung erledigt werden müssen. Die Kirche soll keineswegs durch den Staat entsetzt werden; sondern die Aufgabe ist: eine solche religiöse Verfassung herzustellen, welche dem in der Bildung begriffenen deutschen Staate gleichartig und gerecht wird.
Eine Nation, welche ihr staatliches Dasein gründen und festigen will, hat für ihre religiöse Grundlage zu sorgen. Was zu Einem Volke gehören will, muß an dieser gemeinsamen religiösen Grundlage Antheil haben. Von dieser Gemeinsamkeit aus können sich, ohne Schädigung der einmüthigen nationalen Gesittung, confessionelle, auf die historische Tradition bezügliche Unterschiede forterhalten, weil deren mit einem modernen Staate verträgliche Deutung, die wissenschaftliche wie die pädagogische, stets nur nach der Seite jener allgemeinen religiös-sittlichen Grundlage erfolgen kann.
Ich hoffe gezeigt zu haben, daß der Religions-Inhalt des israelitischen Monotheismus mit dem Religions-Inhalt des in geschichtlichem Geiste gedachten Christentums vereinbar, und zur Volks-Gemeinschaft zureichend sei. Ich will nunmehr darauf hinweisen, wie aus der Geschichte der Juden und der deutschen Judenheit insbesondere hervorgeht, daß ihre religiöse Entwickelung in der geschichtlichen Tendenz des deutschen Protestantismus verläuft. [...] Wie die Geschichte des israelischen Monotheismus, mit seinem einzigen Dogma vom Einzigen Gotte, die innere Entwickelung des protestantischen Charakters aufzeigt, so haben sich insbesondere die deutschen Juden in ihren religiösen Bewegungen der protestantischen Art religiöser Cultur aus das unverkennbarste angeschlossen.
[...]
Wenn wir zu dem deutschen Volke verschmelzen sollen, zu einer Volksgemeinschaft aber die Gemeinsamkeit der religiösen Grundlage unentbehrlich ist, so müssen wir diesen unsern religiösen Beitrag zur nationalen Gemeinschaft hegen und mehren.
Den Orthodoxen unter uns ist zu sagen, daß sie, weil sie ihre religiösen Gebräuche, und somit eine gewisse Besonderheit der Sitten zäh festhalten, deßhalb die Bedeutung der Emancipation nicht äußerlich schätzen dürfen. Denn zu einem Staate gehören, das ist nichts Aeußerliches, Weltliches; sondern es fordert den ganzen innersten Menschen. Seine Einrichtungen muß man lieben, wie man die der Religion liebt; den höchsten und theuersten Platz muß man dem Staate, welchem man mit allen Kräften des Gemüthes sich zu widmen hat, in seinen Bestrebungen anweisen. Seinem Staate dienen zu können, muß als heilig gelten, wie Gottesdienst. Aber auch in der gesammten Art der Lebensführung, im nationalen Vergnügen wie im Dienste der Waffen, lasset die Naturzüge des Volkes, dessen Liebe doch auch in Euch lebt, soweit Ihr zum Culturbewußtsein gereift seid, zu rechter Unbefangenheit in Euch lebendig werden. Werdet darüber, daß Ihr Euren Glauben in positiver Differenz behauptet, daran nicht irre: daß Ihr vermöge dieser Eurer religiösen Grundlage zur Volksgemeinschaft mit den Christen zu verwachsen hoffen und streben müßt.
Den Reformjuden aber möchte ich zurufen: Es gibt unter Euch Viele, welche deutsch zu sein meinen, indem sie sich über alle Religion erhaben dünken. Von Solchen kommt Unheil in die Nation. Achtet, lernet verstehen euren israelitischen Monotheismus, wahret ihn in eurem Gemüth und macht ihn zu der allen Menschen nöthigen religiösen Richtschnur Eures Wandels. Dann werdet Ihr mit dem, was die moderne Bildung Geist des Christenthums nennt, Euch eins fühlen, und die Unterschiede im Ausdruck des Katechismus werden nicht diejenige Gemeinsamkeit der religiösen Grundlage erschüttern, welche für eine einheitliche, im Gemüthe harmonisirte Volksgemeinschaft erforderlich ist.
Von solcher Ueberzeugung aus gelangen wir zu einer positiven, vor Allem aber praktisch wichtigen Ansicht von der Bedeutung des Begriffs Volk. Statt der „subjectiven Ansicht der Glieder des Volks, welche sich alle zusammen als ein Volk ansehen ", halte ich die objective Ueberzeugung von der gemeinsamen religiösen Grundlage als ein werthvolles Kriterium eines modernen Culturvolkes fest. Damit ist ein Anfassungsmittel gewonnen für die Aneignung jener anderen objectiven Bedingungen, die ein jedes für sich unzulänglich bleiben für den empirischen Begriff der Nationalität. Nun wird die subjective Ansicht, welche sich zu einem Volke „zählt”, objectiv; sie hat nunmehr ein fühlbar Ding, mittelst dessen sie sich vollkräftig bethätigen und beweisen kann. Diese religiöse Gemeinsamkeit, wenn sie nur mit Religiosität gedacht wird, kann in Wahrheit das Mittel werden, den Mangel des objectiven Merkmals der Abstammung für das Gefühl zu ersetzen, zum mindesten die letztere weniger vermissen zu lassen: wenn wir dem idealen Volksbegriff mit unserm Herzblut uns anzunähern bestrebt bleiben.
Diese religiöse Gemeinsamkeit, wichtiger als die Gleichheit der Bildung und der ästhetischen Ansichten, sie ist vorhanden, ob auch gehässige oder bornirte Menschen sie verkennen mögen; denn auf ihr beruht die mit Einzelnen zugeständlich vollzogene Lösung des Problems.
Und sie wird wachsen und gedeihen zur Ehre des deutschen Namens und zum Heile deutscher Sittlichkeit.
Dixi et animam meam salvavi.
Marburg, am 24. Januar 1880
Arbeitsaufträge:
- Was ist die allgemeine Bedeutung der Religion für eine Nation?
- Was ist Cohen nach die Gemeinsamkeit zwischen Judentum und Christentum? Was bedeutet dies für das Zusammenleben von Juden und Christen in einer Nation?
- Was rät Cohen seinen jüdischen Glaubensgenossen, den Reformjuden wie den Orthodoxen?
- Wie positioniert sich Cohen gegenüber Treitschke?
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