"Es gab einen Sonderweg der Sowjetunion"
Daschitschew: Vieles wird von den inneren Entwicklungen in der Sowjetunion abhängen. Mein Gedanke ist, daß wir jetzt vielleicht das schwierigste Problem in unserer Entwicklung lösen: die Überwindung der Unvereinbarkeit unseres politischen, wirtschaftlichen Systems mit den westlichen demokratischen Systemen. Das ist das politische Problem Nummer Eins. Diese Inkompatibilität entstand 1917. Die Entwicklung der Sowjetunion ging in ganz andere Bahnen, es gab einen Sonderweg der Sowjetunion ... Ohne Überwindung dieser Unvereinbarkeit können wir keine normalen, zivilisierten Beziehungen zwischen der Sowjetunion und einem geeinten Deutschland organisieren. Das ist meine feste Überzeugung und ich denke, daß die Sowjetunion und einzelne Republiken in diese Richtung gehen werden. Darin besteht die Voraussetzung für neue Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion und für die Entstehung eines gesamteuropäischen Hauses, eines gesamteuropäischen politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen Raumes. Alles hängt von uns ab; wir müssen uns ändern. Natürlich wird auch die Bundesrepublik bestimmte Änderungen zu durchlaufen haben, aber nicht in einem so großen Ausmaß, wie wir das tun müssen.
"Die Bundesrepublik wurde zu einem demokratischen, friedliebenden Staat"
"Blätter": Wieweit hat die Bundesrepublik, die ja kein Nationalstaat im alten Sinn war, mit Traditionslinien deutscher Geschichte gebrochen? Konkret: Kann man ihr einen Vertrauensvorschuß einräumen, wie das in Schelesnowodsk bei den Gesprächen zwischen Präsident Gorbatschow und Bundeskanzler Kohl geschehen ist?
Daschitschew: Zweifellos. Die Bundesrepublik wurde zu einem demokratischen, friedliebenden Staat mit einer gänzlich veränderten Mentalität der Bürger, mit einer hocheffizienten Wirtschaft, mit großem Wohlstand, einem entwickelten geistigen Leben und einer hohen politischen Kultur der Elite. Das muß man zugestehen. Aus meiner Sicht kann von der Bundesrepublik keine Gefahr für den Frieden oder für die Demokratie ausgehen. Die Außenpolitik nicht nur gegenüber der Sowjetunion, sondern auch in Verhältnis zu Polen, wurde geschickt gehandhabt, mit großem Verständnis, mit Toleranz, Geduld, Umsicht und Vorsicht ...
"Blätter": Einspruch!
Daschitschew: ... abgesehen vielleicht von der Diskussion über die Oder-Neiße-Grenze. Aber das war durch innerpolitische Überlegungen bestimmt. Im großen und ganzen meine ich, daß die Politik der Bundesregierung auf die Zukunft gerichtet und besorgt ist um die Verständigung mit den Nachbarvölkern, um die Aufrechterhaltung der politischen und wirtschaftlichen Stabilität und die Stärkung der Sicherheit....
"Die DDR war ein künstliches Gebilde"
Blätter": Sie haben vom außenpolitischen Einfühlungsvermögen der Bundesrepublik gesprochen. Für die Art und Weise, wie der Vereinigungsprozeß betrieben wurde, trifft diese Vokabel wohl kaum zu. Daschitschew: Die DDR war ein künstliches Gebilde, ein künstliches Staatsgefüge, aufgezwungen, vom Volk nicht getragen. Die Herrschaft der SED war nicht legitim, basierte nicht auf dem Prinzip der Souveränität des Volkswillens, sondern auf Gewalt. Deswegen hat m. E. der vor einigen Monaten entbrannte Streit, aufgrund welchen Grundgesetz-Artikels die DDR in den Bestand eines zukünftigen Deutschland eingehen sollte, keine Bedeutung. Denn wir können nicht von einer vollständigen Souveränität der DDR sprechen, einer Souveränität, die vom Volk ausgeht. Mir scheint die Vereinigung der beiden deutschen Staaten in einem Nationalstaat durch Beitritt der DDR ein Weg zu sein, der ganz normal ist.
"Blätter": Der Beitritt war sicherlich eine der vorhandenen Möglichkeiten. Die Frage ist nur: Mußte man ihn so abwickeln? Die schnelle Angleichung der DDR um den Preis der Zerstörung der vorhandenen Infrastruktur - schneidet das nicht Lernmöglichkeiten ab, die es bei einer schrittweisen Transformation der DDR gegeben hätte?
Daschitschew: Die Notwendigkeit, so bald wie möglich das administrative Kommandosystem durch einen anderen Wirtschaftsmechanismus abzulösen, hat das Tempo des Einigungsprozesses bestimmt. Sie müssen im Auge behalten, wie gefährlich und wie kostspielig die langwierigen Prozesse der Überführung unserer Wirtschaft in eine Marktwirtschaft sind, welche Unkosten, materielle, soziale und menschliche, dabei entstehen. Ich denke, daß dieser Prozeß so kurz wie möglich sein muß. Die schrittweise Vereinigung, die sich in die Länge zöge, würde mehr soziale Kosten verursachen als eine rasche ....
"Ohne Überwindung der deutschen Teilung kann die Sowjetunion nicht in die Familie der europäischen Völker zurückkehren"
„Blätter": Wie bewerten Sie das Ergebnis von 2 + 4?
Daschitschew: Das Hauptproblem in den 2 + 4-Verhandlungen bestand darin, die Vorbehalte der Sowjetunion gegenüber der Vereinigung Deutschlands zu überwinden. In unserem Land offenbarten sich in den letzten Jahren zwei Linien in der Deutschlandpolitik: Die alte, die sich an den Status quo klammerte, das waren meist die Anhänger von Gromyko, die darauf bestanden, zwei deutsche Staaten in Europa als konstante Erscheinung zu betrachten ...
"Blätter": Das gab es doch auch z. B. in England und Frankreich, wie sich bei 2 + 4 und im Vorfeld der Verhandlungen gezeigt hat.
Daschitschew: Nicht in so starkem Maße wie bei uns. Denn die Träger der alten Politik waren im Außenministerium und im ZK stark vertreten. Ihrer Ansicht nach diente die Teilung Deutschlands den nationalen Interessen der Sowjetunion. Sie konnten nicht begreifen, daß diese Teilung die eigentliche Quelle der Konfrontation der Sowjetunion mit dem ganzen Westen war. Diese Konfrontation im Verbund mit den Unzulänglichkeiten unseres wirtschaftlichen und politischen Systems wurde zu einer unerträglichen Bürde für das Volk, für die Wirtschaft, für die ganze Gesellschaft in unserem Land. Aus diesem Zustand mußte man so schnell wie möglich herauskommen.
"Blätter": Das war das Ziel der anderen Linie, zu deren herausragenden Verfechtern Sie zählen. Deschitschew: Ja. Die Widerstände gegen das neue Denken in der Deutschlandpolitik waren sehr stark. Deswegen war auch unsere politische Führung so unentschlossen, waren die Äußerungen unserer Spitzenpolitiker ziemlich widersprüchlich .... Erst in diesem Sommer kam es zu einer richtigen Wende in der Deutschlandpolitik.
"Blätter": Wodurch?
Daschitschew: Aus meiner Sicht, weil unsere Führung endlich verstand, daß die Wiedervereinigung unseren Interessen entspricht, daß es zweitens unrealistisch gewesen wäre, sich dem Prozeß der Wiedervereinigung entgegenstellen zu wollen, und drittens, daß ohne die Überwindung der Teilung der Kalte Krieg nicht hätte enden können. An vierter Stelle muß man die Änderungen in der politischen Philosophie und in der Strategie der NATO nennen. Man hat sich vergewissert, daß von selten der NATO keine Gefahr ausgeht. Diese BedrohungsvorsteIlungen wurden künstlich, durch die Propaganda, ins Leben gerufen und in einem großen Maße wurden unsere Politiker und unsere Bevölkerung zum Opfer dieser Propaganda.
"Blätter": Warum soll die NATO denn ihre Strategie ändern?
Daschitschew: Die NATO hat ihre Strategie geändert, weil auch unsererseits wichtige Schritte in Richtung Entspannung getan wurden; die Aufgabe unserer Herrschaft über Osteuropa. die Änderung unserer außenpolitischen Konzeption. Für den Westen stellt die Sowjetunion keine Gefahr mehr dar, anders als unter Beschnew. Daß früher eine Gefahr von der sowjetischen Politik ausging, haben Afghanistan, die ganze Affäre um die SS 20 Raketen und die Hochrüstung der Sowjetunion. die mit den Verteidigungsaufgaben und Sicherheitsbedürfnissen unseres Landes nichts gemein hatte gezeigt….
"Die Europäische Gemeinschaft kann als Vorbild für das zukünftige Europa dienen"
Blätter": Von der NATO abgesehen: Treten Polen, die Tschecheslowakei, Ungarn, auch die Sowjetunion, in absehbarer Zeit der EG bei?
Daschitschew: Die Europäische Gemeinschaft kann als ein Vorbild für das zukünftige Europa dienen. Denn sie hat sich als sehr effektivere Form der Zusammenarbeit mehrerer Staaten bewährt, nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im politischen Bereich, bei der Organisation der menschlichen Kontakte usw. Wenn in den osteuropäischen Ländern und in der Sowjetunion der Prozeß der Aufhebung der Unvereinbarkeit, von dem ich gesprochen habe, abgeschlossen ist, wird die Frage über den Beitritt dieser Länder in eine Europäische Gemeinschaft gestellt. Zuerst als assoziierte Mitglieder, dann als Vollmitglieder. Das entspricht den Zielen der sowjetischen Politik, den sowjetischen Interessen, die die Rückkehr der Sowjetunion in die europäische Völkerfamilie beinhalten.
"Blätter": Sie reden von einer Rückkehr. Andersherum könnte man die Frage stellen: Besteht nicht die Gefahr einer dauerhaften Abkoppelung, weil in Westeuropa insbesondere auch in der deutschen Abteilung die exzessiv betriebene Beschäftigung mit sich selbst Interessen und Kräfte weitgehend absorbiert? Osteuropa könnte an seinen inneren Schwierigkeiten untergehen ...
Daschitschew: Eine Abkoppelung kann in Anbetracht der inneren Prozesse in der Sowjetunion natürlich passieren - wenn wir nicht schnell einen Rechtsstaat, basierend auf der freien Marktwirtschaft schaffen. Das wäre tragisch nicht nur für die Sowjetunion. sondern auch für Westeuropa. denn in einem solchen Fall kann sich in der Sowjetunion oder in Rußland eine Macht entwickeln, die zu dem Rest Europas feindselig eingestellt ist. ...
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.