Spiegel: Sie haben mit Ihrem Rücktritt gedroht, falls die SPD nicht beim Nein zum Staatsvertrag bleibt. ... Die SPD läßt sich auf Dauer nicht erpressen, Rücktrittsdrohungen nutzen sich ab.
Lafontaine: Das Wort Erpressung ist unangebracht ... Es geht bei dem Staatsvertrag um die wichtigste wirtschaftspolitische, sozialpolitische und finanzpolitische Entscheidung der letzten Jahrzehnte. Man muß schon, wenn man die Position des Kanzlerkandidaten kennt, versuchen, die Entscheidung der Partei mit ihm abzustimmen. Ich habe vor meiner Nominierung unmißverständlich gesagt, was ich von der überhasteten Einführung der D-Mark in der DDR halte.
Spiegel: Sie haben ein vorläufiges Nein zum Vertrag in der jetzt vorliegenden Form durchgesetzt. Reicht das, um den Wählern klarzumachen, Kandidat und SPD tragen keine Verantwortung für die Folgen?
Lafontaine: Die Diskussion der nächsten Wochen muß deutlich machen, daß wir keine Verantwortung für jene Teile des Vertrages tragen, die ich für nicht verantwortbar halte. Ich halte die Ausdehnung des Geltungsbereichs der D-Mark zum 1. Juli in der DDR nach wie vor für einen schweren Fehler, weil sie Massenarbeitslosigkeit zur Folge hat. Das habe ich schon vor der Volkskammerwahl in der DDR gesagt, obwohl es damals nicht populär war.
Spiegel: Mit entsprechender Quittung für die Ost-SPD.
Lafontaine: Ein Sieg auf der Grundlage falscher Versprechungen ist ein Pyrrhus-Sieg. Ohne das Wahlergebnis in der DDR zu kennen, sagte ich, wer die erste Wahl in der DDR gewinnt, verliert die zweite. Wer glaubt, die Volkskammerwahl sei ein echtes Bild der politischen Kräfteverhältnisse in der DDR, irrt sich.
Spiegel: Was mißfällt Ihnen außerdem im Staatsvertrag?
Lafontaine: Wir wurden nicht beteiligt. Er ist mit heißer Nadel gestrickt und daher mit erheblichen Mängeln behaftet. Die wirklichen Kosten des Staatsvertrages kennt niemand und die zeitlichen Vorgaben zum Aufbau der notwendigen Verwaltung sind unrealistisch. … Im Vertrag wird außerdem die Spaltung Deutschlands in zwei Sozialstaatsbereiche festgeschrieben, in denen es auf längere Zeit unterschiedliche Renten, Arbeitslosengelder und Sozialhilfen gibt. Die Regierungsparteien werden sich ihrer Worte erinnern müssen, daß dies eine Politik der Herzlosigkeit, der sozialen Kälte sei, daß hier eine neue Mauer in Deutschlandgezogen werde…
Spiegel: Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren daß Ihnen nach wie vor die Einheit suspekt ist, nicht nur das Tempo, mit dem Kohl sie anstrebt. Sie haben stets gesagt, die europäische Integration sollte Priorität haben.
Lafontaine: Es gibt Leute, die unter Einheit nur die staatliche Einheit verstehen. Die Sozialdemokraten verstehen darunter aber auch die Herstellung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse. Die abrupte Einführung der D-Mark ist der teuerste Weg für beide Teile Deutschlands. Den richtigen Weg haben Sachverständigenrat, Bundesbank, Bundeswirtschafts- und Bundesfinanzministerium vor dem 7. Februar gewiesen: Konvertibilität der Ost-Mark herstellen und einen festen Wechselkurs anpeilen, um sich des marktwirtschaftlichen Instruments - und dies ist das Entscheidende - der außenwirtschaftlichen Anpassung nicht zu begeben. Was machen die ganzen Helden in Bonn, die den falschen Weg befürworten, wenn die Produktivität und die Löhne auseinanderdriften? Dann haben sie keine Antwort außer der, den deutschen Steuerzahler ständig zur Kasse zu bitten.
Spiegel: Das Modell des behutsamen Angleichens der Währungen ist durch den Druck aus der DDR-Bevölkerung überrollt worden.
Lafontaine: Was ökonomisch falsch ist, kann politisch nicht richtig sein. Der Bundeskanzler hat gegen die eigenen Ministerien und gegen den Rat der Sachverständigen und der Bundesbank entschieden. Auf welcher Grundlage, frage ich ....
Spiegel: In der DDR sind alle Parteien, auch die SPD, für die Radikalkur.
Lafontaine: Ich kann eine Radikalkur nicht akzeptieren. Sie kann jemand vorschlagen, der hier in sicheren Verhältnissen lebt und keinerlei Sorge hat, einen Arbeitsplatz oder eine Wohnung zu finden. Sicherlich gibt es in der DDR große Erwartungen in die Einführung der D-Mark, die im Wahlkampf leichtfertig geschürt wurden. Man kann einer Bevölkerung, die jahrzehntelang nicht im marktwirtschaftlichen System gelebt hat, nicht abverlangen, daß sie die Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit ihrer eigenen Wirtschalt und damit ihrer Arbeitsplätze überblickt. Das wäre Aufgabe der verantwortlichen Politiker gewesen, die hier eklatant versagt haben.
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