Das gemeinsame Haus Europa. Auszug aus Michail Gorbatschows Buch "Perestroika", 1987
Notwendigkeit:
Imperative für eine gesamteuropäische Politik
Man kann eine ganze Reihe von sachlichen Argumenten aufzählen, die eine gesamteuropäische Politik notwendig machen:
1. Das dicht besiedelte und stark urbanisierte Europa ist sowohl mit Kernwaffen als auch mit konventionellen Waffen gespickt .... Tausende von nuklearen Sprengköpfen werden hier gelagert, während lediglich einige Dutzend ausreichen würden, um Europa in eine Hölle zu verwandeln.
2. Selbst ein konventioneller Krieg hätte heute für Europa katastrophale Folgen, von einem Atomkrieg ganz zu schweigen .... Die Zerstörung ... im Laufe konventioneller Feindseligkeiten würde den Kontinent unbewohnbar machen.
3. Europa gehört zu den industriell am höchsten entwickelten Regionen der Welt. Industrie und Transportwesen haben sich bis zu einem Punkt entwickelt, an dem die Gefahr für die Umwelt fast schon kritisch wird. Dieses Problem geht bereits über nationale Grenzen hinaus und erstreckt sich heutzutage auf ganz Europa.
4. In beiden Teilen Europas vollziehen sich in zunehmendem Maß Integrationsprozesse .... Die Erfordernisse der wirtschaftlichen Entwicklung in bei den Teilen Europas sowie der wissenschaftliche und technologische Fortschritt machen es notwendig, unverzüglich nach einer Form der Zusammenarbeit zu suchen, die für beide Seiten von Vorteil ist. Ich meine damit nicht eine Art "europäische Autarkie", sondern eine bessere Nutzung des gesamten europäischen Potentials zum Wohle der Menschen und in Verbindung mit der übrigen Welt.
5. Die beiden Teile Europas haben eine Menge vom eigenen Problemen, die unter dem Zeichen des Ost-West-Konflikts stehen, aber sie haben auch ein gemeinsames Interesse daran , das äußerst dringliche Nord-Süd-Problem zu lösen. Das heißt natürlich nicht, daß die Länder Osteuropas sich an der Verantwortung für die koloniale Vergangenheit der Westmächte beteiligen. Doch darum geht es nicht. Wenn man das Schicksal der Völker in den Entwicklungsländern außer acht läßt und über das vordringliche Problem der Überwindung der Kluft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern hinwegsieht, dann könnte das für Europa und die übrige Welt verheerende Folgen haben ....
Dies sind im großen und ganzen die Imperative einer gesamteuropäischen Politik, wie sie von den Interessen und Bedürfnissen Europas als einem einheitlichen Ganzen bestimmt wird.
Möglichkeiten für Europa
Und nun zu den Möglichkeiten der Europäer und zu den notwendigen Voraussetzungen für das Zusammenleben in einem "gemeinsamen Haus".
1. Die Nationen Europas haben in den beiden Weltkriegen sehr schmerzliche und bittere Erfahrungen gemacht. Das Bewußtsein, daß der Ausbruch eines neuen Krieges verhindert werden muß, hat sich tief in ihr Gedächtnis eingeprägt. Es ist kein Zufall, daß es gerade in Europa die größte und maßgeblichste Antikriegsbewegung gibt und daß sie alle sozialen Schichten umfaßt.
2. Was die Handhabung internationaler Angelegenheiten betrifft, so ist die politische Tradition Europas die reichhaltigste der Welt. Die europäischen Staaten haben realistischere Vorstellungen voneinander, als dies in jeder anderen Region der Fall ist. Ihre gegenseitige politische "Bekanntschaft" ist umfassender, dauert bereits länger und ist daher enger.
3. Kein anderer Kontinent verfügt insgesamt gesehen über ein derart weitverzweigtes Netz von bilateralen und multilateralen Handelsbeziehungen, Konferenzen, Verträgen und Kontakten aufnahezu jeder Ebene. Es spricht für Europa, daß es eine in der Geschichte der internationalen Beziehungen einmalige Leistung wie die Vereinbarungen von Helsinki zustande
gebracht hat. ...
4. Das wirtschaftliche, wissenschaftliche und technische Potential Europas ist gewaltig. Es ist zwar verzettelt, und die Kraft eier Abstoßung zwischen Ost und West ist größer als die Anziehungskraft. Dennoch sind der gegenwärtige Stand der Dinge in wirtschaftlicher Hinsicht sowohl im Westen als auch im Osten sowie die realen Aussichten so, daß sie es durchaus ermöglichen, einen Weg für eine Verknüpfung von ökonomischen Prozessen in beiden Teilen Europas zum Wohle aller zu finden.
So sieht der einzig vernünftige Weg zur Weiterentwicklung der materiellen Zivilisation in Europa aus. "Von Atlantik bis zum Ural" ist Europa ein kulturhistorisches Ganzes, vereint durch das gemeinsame Erbe der Renaissance und der Aufklärung sowie der großen philosophischen und sozialen Lehren des 19. und 20. Jahrhunderts. Dies sind starke Magneten, die den Politikern bei ihrer Suche nach Wegen zur gegenseitigen Verständigung und Kooperation auf der Ebene zwischenstaatlicher Beziehungen eine Hilfe sind. Im kulturellen Erbe Europas liegt ein enormes Potential für eine Politik des Friedens und der gutnachbarlichen Beziehungen. Im großen und ganzen findet die neue, heilsame Perspektive in Europa einen fruchtbareren Boden als in irgendeiner anderen Region, wo die beiden Gesellschaftssysteme aufeinandertreffen ....
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