Adenauers Ort in der deutschen Geschichte. Betrachtungen des Historikers Winfried Loth (1988)
Wesentliche Entscheidungen, die den Verlauf der deutschen Geschichte nach 1945 bestimmten, waren schon gefallen, ehe Adenauer die politische Bühne betrat. Das Deutsche Reich, so wie es Bismarck geformt hatte, war zusammengebrochen; die Ostgebiete waren für Deutschland verloren; und die Siegermächte, die Sowjetunion wie die Westmächte waren entschlossen, die Kontrolle über die, deutschen Angelegenheiten nicht mehr aus der Hand zu geben und so eine Rückkehr zur deutschen Hegemonie über den europäischen Kontinent zu verhindern …
Die zentrale Bedeutung Adenauers für den Gang der deutschen Gesehichte nach. 1945 liegt denn auch nicht in den Weichenstellungen der ersten Nachkriegsjahre. Sei ist vielmehr darin zu sehen, daß er für ein Festhalten an der Entscheidung zur Gründung der Bundesrepublik gesorgt hat, als ihre Konsequenzen nach und nach sichtbar wurden. Adenauers Wirken als verantwortlicher Leiter der bundesdeutschen Politik hatte maßgeblichen Anteil daran, daß aus dem Provisorium von 1949, das manche als Kernstaat verstanden und manche überhaupt noch nicht als Staat, bis 1955 ein zentrales Mitglied der westlichen Staatenwelt wurde, gesellschaftlich, ideologisch und sicherheitspolitisch fest im Westen verankert, formal nahezu gleichberechtigt und politisch oft einflußreicher als die britische oder französische Siegermacht…
Die Westdeutschen wurden in einem Tempo zu geachteten Mitgliedern der westlichen Staatengemeinschaft, das ohne den Kalten Krieg nicht denkbar gewesen wäre; und die Welt erlebte eine Bereinigung oder doch zumindest Vertagung der Deutschen Frage, die stabiler war als alles, was man bislang zur Lösung dieses leidigen Problems ausgedacht und ausprobiert hatte. Gleichzeitig mußten aber auch die Deutschen, die das Unglück hatten, auf dem Territorium der sowjetischen Besatzungszone zu leben, recht einseitig für die Sünden der Vergangenheit und die Niederlage büßen. Und Ost und West sahen sich vor die Notwendigkeit gestellt, endlose Ressourcen in Verteidigungsanstrengungen stecken zu müssen, ohne sicher sein zu können, ob die wechselseitige Abschreckung auch wirklich funktionierte.
Widerstand gegen die Westintegration der Bundesrepublik gab es folglich allenthalben, teils aus mangelnder Einsicht in die Notwendigkeiten der Situation und teils aus sehr begründeter Einsicht in die Kosten des Verfahrens. Immer wieder und an den unterschiedlichsten Orten tauchte die Frage auf, ob es nicht besser sei, wenigstens hinsichtlich des deutschen Problems nach einem Kompromiß zwischen Ost und West zu suchen, die Rückkehr zur Viermächtekontrolle anzustreben und damit auch die militärische Situation in Europa zu entzerren. George Kennan, der Vater der amerikanischen Eindämmungsdoktrin, wollte das schon im Sommer 1948, als die Berliner Blockade die Gründung der Bundesrepublik bedrohte; Churchill hielt den Zeitpunkt dafür nach dem Tode Stalins im März 1953 für gekommen; und die französischen Regierungen sahen sich permanent in Versuchung geführt, der mißlichen Kombination von amerikanischer Hegemonie und westdeutscher Wiederbewaffnung durch eine Wiederbelebung der Allianz der Siegermächte zu entkommen. Am gefährlichsten wurde es für das Westintegrationsprojekt, wenn sich die sowjetische Führung dazu durchrang, zur Verhinderung eines westdeutschen Verteidigungsbeitrags im Rahmen einer starken Allianz des Westens das Machtmonopol der SED in der DDR preiszugeben. Das war allem Anschein nach im Frühjahr 1952 der Fall; und ein Jahr später bewegte sich die sowjetische Politik noch einmal in die gleiche Richtung.
Adenauer hat in diesen Neutralisierungsplänen stets eine tödliche Gefahr nicht nur für die Bundesrepublik, sondern auch für Deutschland gesehen. "Bismarck", so vertraute er einmal einem Journalisten an, "hat von seinem Alpdruck der Koalitionen gegen Deutschland gesprochen. Ich habe auch meinen Alpdruck: er heißt Potsdam. Die Gefahr einer gemeinsamen Politik der Großmächte zu Lasten Deutschlands besteht seit 1945 und hat auch nach der Gründung der Bundesrepublik weiter bestanden. Die Außenpolitik der Bundesrepublik war von jeher darauf gerichtet, aus dieser Gefahrenzone herauszukommen. Denn Deutschland darf nicht zwischen die Mühlsteine geraten, dann ist es verloren."...
Der unglückliche Abgang des Altkanzlers sollte ... nicht den Blick dafür verdunkeln, daß er die Chancen für die Errichtung einer bürgerlichen Ordnung in Deutschland, die sich aus der von ihm gewählten Konstellation ergaben, nach Kräften genutzt und damit wenigstens auf einem Teil deutschen Territoriums Traditionen zum späten Durchbruch verholfen hat, die in der bisherigen deutschen Geschichte immer zu kurz gekommen waren, erst gegenüber dem Behauptungswillen der Feudalaristokratie und dann gegenüber den unkontrollierten Zukunftsängsten einer industriellen Massengesellschaft. Mit seinem von keinerlei Selbstzweifeln geplagten bürgerlichen Selbstbewußtsein, seinem pragmatisch-zupackenden Führungsstil und seiner Abschirmung der bundesdeutschen Gesellschaft vor aufwühlenden Problemen trug er dazu bei, daß die natürliche Dominanz des westdeutschen Bürgertums und der alten Partikularkräfte des Südwestens und des Südens, die sich aus der Beschränkung auf die Westzonen ergab, zu einer allgemeinen Verbürgerlichung des Lebensstils und des Wertesystems breiter Sichten führte. Die Modernisierung, die seit den Jahren des Dritten Reiches angebrochen war, wurde dadurch zum Teil wieder gestoppt, was der Adenauer-Ära nach den Umbruchhoffnungen der Befreiungsphase einen unverkennbaren restaurativen Zug beimischte und manchen Stützen des nationalsozialistischen Regimes ein Überleben im Schatten der antikommunistischen Frontstellung ermöglichte. Aber im Zusammenhang mit der Beschwörung der Gemeinsamkeiten der westlichen Welt wurden doch auch gleichzeitig das Tor zu den westlichen Demokratien weit geöffnet und so die Grundlagen dafür geschaffen, daß diese Republik die Verkrustungen des spätbürgerlichen Idylls später aus eigener Kraft überwinden konnte.
Es ist sicher richtig, daß dies, die Westintegration einmal vorausgesetzt, einem anderen Kanzler in ähnlichcr Weise gelungen wäre. Vielleicht hätten etwas weniger skrupelloser Umgang mit den Verfassungsinstrumentarien, etwas weniger Menschenverachtung und etwas mehr Zutrauen in den aufgeklärten Bürgersinn, als er sie vorexerzierte, der westdeutschen Demokratie sogar zu noch solideren Fundamenten verholfen. Aber ob die bürgerliche Ordnung auch bei einer Verwirklichung der gesamt-deutschen Alternative zum Adenauerstaat eine solche Spätblüte einschließlich der breiten Öffnung zum Westen erlebt hätte, darf füglich bezweifelt werden ... Der Zuschnitt der Republik, die wir kennen, ist jedenfalls unlösbar mit der Entscheidung Adenauers verbunden.
Weil es nicht möglich ist, mit Bestimmtheit zu sagen, welchen Weg ein neutralisiertes Deutschland genommen hätte, ist es auch aus der historischen Distanz nicht leicht, diese Entscheidung angemessen zu beurteilen. Diejenigen, die in der Tradition des westdeutschen Bürgertums stehen, werden sie sich gewiß leichter zu eigen machen können als diejenigen, die ihre Nachteile zu spüren bekamen. Undifferenziertes Wehklagen über angeblich verpaßte Chancen ist allerdings ebensowenig angebracht wie die eilfertige Versicherung, daß keine andere Entscheidung möglich und gangbar gewesen wäre. Wem es um den Erhalt des republikanischen Konsenses und um eine realitätsbezogene Politik in dieser Gesellschaft zu tun ist,wird immer beides zusammen sehen müssen: Adenauers Beitrag zum Aufstieg der Westdeutschen, zu ihrer Versöhnung mit westlichen Prinzipien und zur Befriedung Europas und sein Mitwirken an der Festschreibung der deutschen Teilung und der Verschärfung der Ost-West-Blockkonfrontation. Daß beides: die Leistungen Adenauers und die Kosten, die seine Politik verursachte, enorm waren, macht die historische Größe dieses Mannes aus.
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