4. Das Erbe Adenauers
Am 19. April 1967 starb Altbundeskanzler Konrad Adenauer in seinem Haus in Röhndorf im Alter von 91 Jahren. An Trauerfeierlichkeiten zu seiner Beisetzung nahmen Delegationen aus 54 Staaten, darunter der amerikanische Präsident Johnson, der französische Staatspräsident de Gaulle und der britische Premierminister Wilson, teil.
"Der Begründer". Leitartikel zum Tode Konrad Adenauers von Jürgen Tern. dem Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, am 20. April 1967
Seit Bismarck hat keiner den Staat der Deutschen so lange, so entschlossen und so selbstsicher, mit so viel Glück und Erfolg regiert wie Konrad Adenauer. Es drängt sich auf, den Bogen bis zur Reichsgründung zurück zu schlagen, um den Maßstab für die Bedeutung und die Größe des Toten zu finden. Die Angst vor dem Klischee braucht einen davon nicht abzuhalten, auch nicht die Gegensätzlichkeit der zwei großen Naturen und nicht die Unvergleichlichkeit der von ihnen hinterlassenen Ausformungen deutscher Staatlichkeit. Konrad Adenauer zählt zu den ganz wenigen großen staatsmännischen Figuren des neuzeitlichen Deutschlands. Er wird als der Begründer der zweiten deutschen Republik über die Jahre und Jahrzehnte hinweg gelten. Respekt und Verehrung sind die Dankesschuld.
Der Verfassung dieser Bundesrepublik hat Adenauer nicht viel mitgegeben; die Bundesrepublik in ihrer historischen und politischen Realität ist dennoch zum großen Teil sein Werk und sein Erbe. Das intensive, zähe Leben, das politische Entwicklungsgesetz und den Kurs erhielt dieses neue, gebrechliche, ungeliebte, gleichwohl vitale Staatsfragment vom ersten Bundeskanzler. Er zögerte nie einen Augenblick, seinen Regierungskünsten ein hinreichend adäquates Objekt aus der (auch moralisch) zerfledderten Substanz zu gewinnen. Indem er in Bonn regierte, atmete er.
Was er bei seinem Regierungsantritt am 15. September 1949 an Staat vorfand, das war ein ärmliches, verludertes, hinfälliges, mühsam mit fremder Nachhilfe auf die Beine gestelltes Gebilde. Was er am 15. Oktober 1963 aus der Hand geben mußte, war damit gar nicht mehr zu vergleichen. Und auch der von der Bundesrepublik gewonnene m.0ralis.che Ruf geht zu einem guten Teil auf sein Konto, obschon man Ihn nicht einen Moralisten nennen wird. Adenauer hatte von Anbeginn an einen richtigen Staat gewollt, mit allen Attributen, allen Rechten, nicht bloß ein ökonomisches Zweckgebilde. Sein großes Glück war, daß er in Erhard einen optimistischen Wirtschaftspolitiker von adäquatem Format an seiner Seite fand; sein Verdienst war, daß er diesen Erhard wirken ließ.
Die unerwartete Größe des staatsmännischen Zuschnitts, in mancherlei Menschlichkeiten eingebettet, erwies sich, als die außenpolitischen Grundentscheidungen zu fällen waren. Sie erforderten nüchtere Voraussicht, Mut, Willensstärke. Damit wohl versehen, stellte sich Adenauer ohne Scheu den Herausforderungen, die ziemlich plötzlich auf die Bundesrepublik zukamen und auf die sie sich kaum hatte innerlich vorbereiten können. Ihn aber fand die Stunde gefaßt, kühlen Kopfes und zupackend. Er fürchtete sich vor den weittragenden Entschlüssen sowenig wie vor der Macht mit der er um so souveräner und herrischer umzugehen liebte, je mehr sie sich auswuchs. Seine Entschlüsse hießen: Westorientierung, Europa-Option, deutsch-französische Aussöhnung. Und das wird lange vorhalten. Es ist das Vermächtnis.
Verglichen damit war der Unterton von Antikommunismus doch fast von beiläufiger Natur. Die Staatsräson bedeutete ihm mehr als die Ideologie. Auf Kreuzzug war er nicht aus; das Arrangement entsprach seinem Naturell. Er wünschte den Ausgleich selbst mit dem Osten. Er wußte vom Unvollendeten, Unvollkommenen des Werks. "Wiedervereinigung", in welchem Wandel immer, war nicht Objekt seiner Gleichgültigkeit, sondern heimliche Hoffnung. Bis zuletzt ärgerte er sich bei der Vorstellung, daß ihm eine Chance nach Osten hin verpatzt worden sei. In aller Skepsis blieb er noch ein Patriot, der freilich von nationalistischem Pathos nichts Gutes mehr halten mochte. Und die Abkehr vom Nationalismus ist eine seiner besten Lektionen für die Nation, um die er in Sorge war.
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