Für eine aktive und zielbewußte Wirtschaftspolitik. Aus der Kritik des SPD-Wirtschaftsexperten Heinrich Deist an der Erhard-Rede, in einem Rundfunkbeitrag vom 23. März 1962
Die Rede Erhards sei eine sträfliche Philippika gewesen, wobei Erhard als Unheilsbote aufgetreten sei und den Unternehmern den Mut zu Investitionen genommen habe ... Anstatt über alle Sender drohendes Unheil zu verkünden, solle der Bundeswirtschaftsminister endlich eine aktive und zielbewußte Wirtschaftspolitik verfolgen. Die Bundesregierung solle ein Gremium hervorragender Wissenschaftler berufen, das die gesamte wirtschaftliche Entwicklung zu verfolgen hätte. Dazu gehörten die Entwicklung der Investitionen, Gewinne und Preise ebenso wie die Entwicklung der Löhne und Gehälter sowie die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben der öffentlichen Hand. Ein solches Gremium und nicht eines, das sich einseitig gegen die Lohnempfänger richte, könne die Voraussetzungen für eine objektive Wirtschaftspolitik schaffen. Darüber hinaus solle die Bundesregierung zum Beginn eines jeden Jahres in einem Jahreswirtschaftsbericht vor dem Parlament ihre Wirtschaftspolitik darlegen. Aus diesem Bericht müsse deutlich werden, daß hinter dieser Politik eine Regierung stehe, die ohne Rücksicht auf mächtige Interessengruppen zum Handeln bereit sei. Dann hätten sowohl Unternehmer wie Arbeitnehmer eine klare Grundlage für ihre Entscheidungen. Es gebe tatsächlich eine Maßlosigkeit, die angeprangert werden müsse. Dazu gehöre z. B. der Besuch der aufreizend exklusiven Vergnügungsstätten sowie der Kauf von Grundstücken in der Schweiz, Italien, Spanien und Irland. Warum wage der Bundeswirtschaftsminister aber nicht, hier Roß und Reiter zu nennen? Müsse er sich wirklich hinter eine Philippika über das ganze deutsche Volk verschanzen? Dürfe er nicht deutlich sagen, was doch wohl gesagt werden müsse? In der Lohnpolitik seien nicht die Gewerkschaftsforderungen ausschlaggebend, sondern das tatsächliche Verhandlungsergebnis. Ferner müsse festgestellt werden, daß das Volkseinkommen je Erwerbstätigem von 1950 bis 1960 um 67 %, die Löhne und Gehälter je Arbeitnehmer dagegen nur um 64 % gestiegen seien. Durch das stärkere Steigen der Löhne im Jahre 1961 sei nur ein Teil dieses Rückstandes aufgeholt worden. Deshalb sei es unzulässig, den Arbeitnehmern den Schwarzen Peter der Preissteigerungen zuzuschieben. Zu den Grundlagen einer freien Gesellschaft gehöre eine freie Wirtschaft. Der Staat sei aber dafür verantwortlich, daß alles geordnet zugehe, und vor allem der Verbraucher als der schwächste Teil der Wirtschaft zu seinem Recht komme.
Die Popularität, über die Erhard als Begründer des neuen Wohlstandes nach 1945 in breiten Bevölkerungsschichten verfügte und die das Fundament seiner politischen Stellung bildete, zerbröckelte nach dem Sieg in der Bundestagswahl vom 19. September 1965 rasch. Die sich bereits im Sommer 1965 bemerkbar machende und im Herbst 1966 voll einsetzende erste scharfe Rezession in der Konjunkturentwicklung der Bundesrepublik wirkte wie ein Schock. Das Vertrauen in die Selbst-Steuerungskräfte der Marktwirtschaft wurde nachhaltig erschüttert und Erhards Aufforderungen zum "Maßhalten" stießen zunehmend auf Skepsis und Ablehnung.
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