2. Erhard und der Übergang zur Großen Koalition
Gefährdungen des "Wirtschaftswunders". In einer Rundfunkansprache warnte Erhard vor Anforderungen, die größer als das Volksprodukt seien und forderte zum "Maßhalten" auf, 21. März 1962
Seit der Begründung der Bundesrepublik hat sich die weltpolitische Lage grundsätzlich gewandelt. Über die EWG hinaus rückt die Welt in offenen Markten mit allen sich daraus ergebenden politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen immer enger zusammen... Noch ist es Zeit, aber es ist auch höchste Zeit, Besinnung zu üben und dem Irrwahn zu entfliehen als ob es einem Volke möglich sein könnte, für alle öffentlichen und privaten Zwecke in allen Lebensbereichen des einzelnen und der Nation mehr verbrauchen zu wollen, als das gleiche Volk an realen Werten erzeugen kann oder zu erzeugen gewillt ist, und daß es im Zweifelsfall nur der Androhung oder auch Anwendung von Macht und Gewalt bedürfe, diese Grenzen zu sprengen. Solch törichtes Beginnen kann - von wem auch immer geübt - sehr wohl zu einem Mißbrauch wirtschaftlicher Macht ausarten, aber in jedem Falle bedeutet es einen Mißbrauch des gesunden Menschenverstandes. An dieser Stelle kommt mit Sicherheit der Einwand, daß es ja gar nicht darum ginge, sondern nur um die ,Gerechtigkeit', sei es hinsichtlich der Verteilung des Vermögens oder des Volkseinkommens ... Aber selbst wenn ich vom Augenblick her gesehen, Mängel in der Vermögensschichtung zuzugeben bereit wäre, muß ich erst recht gegen die Torheit jener ankämpfen, die in der gewaltsamen Übersteigerung ihrer Ansprüche an das Sozialprodukt eine Kosteninflation auslösen, die unsere deutsche Wettbewerbsfähigkeit fortdauernd schmälern und am Ende vernichten müßte. Das eben macht den Ernst der Stunde aus, von dem ich eingangs sprach. Leider sind das auch nicht mehr mögliche Sorgen von morgen, sondern es sind die bereits beweisbaren Befürchtungen von heute. Man kann es nur als einen Wahnwitz bezeichnen, die vermeintliche Ungerechtigkeit der Vermögensverteilung durch eine Politik der Überforderung der Volkswirtschaft heilen zu woIlen. Dieses Verhalten führt vielmehr unausweichlich zu einer fortdauernden Schwächung unserer Leistungs- und Wettbewerbs kraft, zu einer Minderung der volkswirtschaftlichen Aktivität, zu einer anhaltenden Schmälerung der Erträge, zu einer rückläufigen Investitionsneigung und -fähigkeit, zur Gefährdung eines ausreichenden Steueraufkommens und am Ende zur Zerstörung der Vollbeschäftigung und zur Gefährdung der Arbeitsplätze ... Arbeitnehmer und Arbeitgeber ziehen schon seit Jahren aus dem Ertrag der Volkswirtschaft relativ höheren Nutzen als alle anderen Bevölkerungsschichten. So ist z. B. das Einkommen aus Lohn und Gehalt je Beschäftigtem trotz gleichzeitiger Verkürzung der Arbeitszeit von 1960 auf 1961 um 10% gestiegen, während sich die Produktionsleistung pro Erwerbstätigen nur um knapp 4% erhöhte ... Der Hexensabbat dauert fort, wenn überhöhte Löhne die Preise und steigende Preise dann wieder die Löhne treiben ... Arbeitgeber und Arbeitnehmer vergessen nur allzu leicht, daß wir die fluchwürdige Zeit der Devisenzwangswirtschaft hinter uns haben, mit der man hinter abgeriegelten Märkten jedweden wirtschaftlichen Unfug treiben konnte. In der weltpolitischen Ordnung, in der wir leben, gibt es keine Vollbeschäftigung ohne Leistungsbewährung; ein Volk, das diesem Gesetz entfliehen möchte, fällt in die Primitivität zurück und kann nicht länger am Fortschritt teilhaben...
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