1. Die Spiegel-Affäre und der Rücktritt Adenauers
In der Nacht vom 26. zum 27. Oktober 1962 begann auf Anordnung des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof eine Durchsuchung der Geschäftsraume des Nachrichtenmagazins Spiegel in Hamburg und Bonn. Zahlreiche Redakteure und Mitarbeiter, darunter der Herausgeber Rudolf Augstein und der stellvertretende Chefredakteur Conrad Ahlers wurden im Laufe der Aktion verhaftet. Dem Spiegel wurde vorgeworfen, in einem Artikel über das NATO-Manöver „Fallex 62“ Staatsgeheimnisse preisgegeben und damit „Landesverrat“ begangen zu haben.
Die Spiegel-Affäre. Aus einem Leitartikel der Londoner "Times" zu den Hintergründen und der politischen Bedeutung der Aktion gegen den Spiegel, November 1962
Die deutsche Bundesregierung ist mit knapper Not einer üblen Krise entronnen. Dr. Adenauer war gezwungen, zwei verläßliche Beamte in die Wüste zu schicken, und den Freien Demokraten war ein kleiner Sieg vergönnt, der es ihnen gestattet, in der Regierung zu bleiben, ohne allzuviel Gesicht zu verlieren. Aber damit ist die ganze Geschichte keinesfalls erledigt. "Der Spiegel" muß noch zu den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen Stellung nehmen, und die Bundesregierung muß noch genau erklären, was eigentlich geschah und warum es geschah. Insbesondere: Waren die gegen das Nachrichtenmagazin ergriffenen Maßnahmen rechtmäßig? Waren sie politisch inspiriert oder beeinflußt? Das sind ernste Fragen. Inzwischen ergibt sich aus dem Ablauf des bisherigen Geschehens eine Reihe von Schlußfolgerungen. Die offensichtlichste ist, daß die ganze Geschichte in einen Dunst von Gerüchten, ausweichenden Stellungnahmen, Widersprüchen und Ungewißheiten gehüllt ist, der unter den Deutschen und ihren Verbündeten nur Besorgnis erregen kann. Die nächtliche Polizeiaktion kam 18 Tage nach der Veröffentlichung des beanstandeten Artikels und 24 Stunden nachdem Verteidigungsminister Strauß hinsichtlich der in der Fibag-Affäre vom "Spiegel" erhobenen Anschuldigungen vom Bundestag entlastet worden war. Wenn auch die Forderung nach Vorlage der Druckfahnen der nächsten Nummer zur Prüfung gleich wieder fallengelassen worden ist, so war sie doch zweifellos gestellt worden. Das Personal wurde aus seinen Büros vertrieben. Ein Mitglied der Redaktion wurde in Spanien unter mysteriösen Umständen verhaftet, und niemand hatte den Mut, sich als hierfür verantwortlich zu erklären. Der Justizminister war von den Maßnahmen vorsätzlich in Unkenntnis gehalten worden. Schließlich bemühte sich noch Herr Strauß, seine Hände in dieser Angelegenheit in Unschuld zu waschen, obwohl sie doch gerade ihn am nächsten angehen sollte. Es überrascht daher kaum, wenn der rechtliche Tatbestand der Aktion gegen den "Spiegel" zugunsten eines fast allgemeinen Verdachts beiseite geschoben wurde, daß es sich hier um einen Racheakt handele für die lästige und verletzende Art, mit der die Zeitschrift die Regierung im allgemeinen und Herrn Strauß im besonderen ständig behandelt hatte. Seit dem politischen Ränkespiel nach der letzten Bundestagswahl ist der Stern des Herrn Strauß im Sinken, und der "Spiegel" hat an diesem Niedergang mit Genuß mitgewirkt. Unter diesen Umständen hätte man billigerweise erwarten können, daß - falls ein echter Grund für ein gesetzliches Einschreiten gegen den "Spiegel" bestand _ mit peinlichster Sorgfalt und untadelig vorgegangen worden wäre. Daß das Gegenteil geschah, verrät nicht nur eine völlige Mißachtung für korrektes Vorgehen, es erweckt unvermeidlich auch Zweifel hinsichtlich der Motive.
Aber das Vorgehen ist nicht der einzige beunruhigende Aspekt. Daß eine Vendetta zwischen einer Zeitschrift und einem Minister so plump gehandhabt Wird, kann kaum als ein gesundes Zeichen angesehen werden...
Wie sich im weiteren Verlauf der Spiegel-Affäre herausstellte, hatte Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß die Verhaftung von Conrad Ahlers, der sich gerade in Torremolinos im Urlaub aufhielt, mittels Einschaltung der spanischen Polizei persönlich veranlaßt. Die FDP erklärte daraufhin, daß es für sie keine Grundlage für eine „weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Bundesminier Strauß“ mehr geben könne und zog ihre Minister aus dem Kabinett zurück. Nachdem Adenauers Versuch, eine Regierung mit der SPD zu bilden, scheierte, kam es am 11. Dezember 1962 erneut zu einer CDU/ CSU-FDP Koalition. Zuvor hatte sich Adenauer allerdings verpflichten müssen, nach den Parlamentsferien im Herbst 1963 sein Amt niederzulegen.
Am 15. Oktober 196.3 trat Adenauer nach über 14jähriger Amtszeit zurück und am 16. Oktober wählte der Bundestag Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Ludwig Erhard zum Bundeskanzler. Bis zuletzt hatte Adenauer versucht, seinem Nachfolger den Weg ins Kanzleramt zu verbauen. "Erhard", so Adenauer, „ist ein hervorragender Wirtschaftler und ein Mann, der die besten Fähigkeiten hat: ob er aber auch ein hervorragender Politiker ist muß er erst noch beweisen...“
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