Die Bedeutung des 13. August 1961: Ausführungen der Publizistin Marion Gräfin Dönhoff zum ersten Jahrestag der "Mauer" am 10. August 1962
Fiktionen können in der Politik ebenso wichtig sein wie Fakten, aber sie haben nur selten die gleiche Lebensdauer. Und darum ist es wichtig, sich immer wieder Rechenschaft über ihre Lebensfähigkeit zu geben. Der Schock des 13. August [1961] war ja deshalb so groß, weil wir plötzlich erkennen mußten, daß die andere Seite (ich meine die Sowjets, nicht die DDR) mächtig genug war, ein angebliches Faktum als Fiktion aufplatzen zu lassen ...
Man sollte heute, am Jahrestag der Mauer, einmal Bilanz machen und den Blick zurückgehen lassen über Fakten und Fiktionen ...
Blicken wir zurück bis 1955, dem Jahr einer deutlich sichtbaren Zäsur. Bi~ dahin hatten die Sowjets dem Ziel der Wiedervereinigung nie grundsätzlich widersprochen. Im Jahr 1955 aber schlugen sie eine neue Politik ein: Anfang September gelang es ihnen, im Austausch gegen deutsche Kriegsgefangene Adenauer zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu bewegen. Drei Wochen später ... schlossen sie mit der Sowjetzone ein Abkommen, in dem diese als souveräner Staat anerkannt wurde. Nachdem auf diese Weise die Grundlage für die Zwei-Staaten-Theorie geschaffen worden war, verkündete Chruschtschow...: Wenn Wiedervereinigung, dann nur unter kommunistischen Vorzeichen ... Wir sollten uns nichts vormachen. Es gibt zwar immer einen Status quo, aber es ist jedes Jahr ein anderer, und jeder ist ein bißchen schlechter als der vorangegangene...
Wenn es aber so ist, daß auf lange Sicht des Westens Chancen - sofern keine wesentlichen Erschütterungen eintreten - größer sind, als man es noch vor wenigen Jahren für möglich hielt, dann sollte man die Frage der Fakten und Fiktionen unter diesem Aspekt heute noch einmal überdenken.
Zu den wesentlichen Erschütterungen, die wirklich alles gefährden würden, gehört zweifellos eine Veränderung des Status von Berlin zur Freien Stadt. Eine graduelle Verschlechterung des Status von Westberlin, die zwangsläufig zu seiner Preisgabe führen müßte, würde einen Vertrauensschock in Europa auslösen, dessen Konsequenzen ganz unabsehbar wären.
[Dank] der sehr energischen Politik Kennedys seit seiner militärischen ,Mobilisierung' im Juli 1961 ... [wissen heute] beide Seiten..., daß Westberlin ein Faktum ist und keine Fiktion wie der Vier- Mächte-Status.
Was aber ist mit unserer anderen großen Fiktion - der Behauptung, es gebe keinen zweiten deutschen Staat, obgleich er zusammen mit uns [1959] am Katzen-Verhandlungstisch in Genf saß, obgleich wir an seiner Grenze bereitwillig den Paß vorzeigen um nach Berlin durchreisen zu können, obgleich wir Handelsabkommen mit ihm schließen? Gewiß, das Regime werden wir nie anerkennen können, aber das Faktum der Existenz eines zweiten deutschen Staates - das haben wir doch längst zur Kenntnis genommen…
Wenn es stimmt, daß auf lange Sicht wir und nicht die Kommunisten im Einklang mit der geschichtlichen Entwicklung stehen, dann brauchen wir doch eigentlich vor einer De-facto-Anerkennung der DDR – falls sie und eine Garantie der Zugangswege nach Berlin einbringt – nicht mehr zurückzuschrecken… Die Zeit ist gekommen, die Lebensfähigkeit und den Tauschwert jener langgehegten Fiktion zu überprüfen, ehe sie uns vielleicht unter den Händen in Nichts zerrinnt.
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