Plädoyer für eine gemeinsame Politik. Aus einer programmatischen Rede von Herbert Wehner, dem stellvertretenden Parteivorsitzenden der SPD, vor dem Deutschen Bundestag am 30. Juni 1960
Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, hat vor einigen Tagen auf Berührungspunkte der Auffassungen der demokratischen Parteien hingewiesen, über die, wie er sich ausdrückte - und auch ich bin dieser Meinung -, es eigentlich keine Auseinandersetzungen bei uns in der Bundesrepublik zu geben brauchte... Das sind:
Erstens: Berlin muß beim Bund bleiben. Aus einer Zweiteilung Deutschlands darf keine Dreiteilung werden.
Zweitens: Das deutsche Volk und die Bundesrepublik haben sich gegen jede Diktatur und für die westliche Gemeinschaft entschieden, das heißt für eine enge Zusammenarbeit mit den westlichen Nachbarn und der freien Welt.
Drittens: Die verantwortungsbewußten Kräfte Deutschlands haben sich gegen jede Form des Kommunismus und gegen die sowjetische Deutschlandpolitik entschieden.
Viertens: Es muß alles getan werden, um das Leben und das Los der 17 Millionen Landsleute im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands zu erleichtern. Wir dürfen den Willen zur Selbstbestimmung in unserem Volk nicht erlahmen lassen und müssen uns ständig um neue Ansätze zur Lösung der deutschen Frage bemühen.
Fünftens: Nachdem Europa schon durch die Kommunisten gespalten ist, darf nicht dazu beigetragen werden, Europa noch einmal zu spalten. Vielmehr muß, soweit wir dazu etwas tun können, alles in die Wege geleitet werden, damit es in einer breiten Gemeinschaft zusammenarbeiten kann.
Sechstens: Bei aller Notwendigkeit, den Fragen der militärischen Sicherheit gerecht zu werden, muß die Bundesrepublik jede Anstrengung machen, um zur Sicherung des Friedens in der Welt beizutragen. (Unruhe bei der CDU/CSU.)
- Ich merke, es lockert sich auf. (Heiterkeit.) ...
Der Herr Bundesverteidigungsminister Strauß hat vor einigen Tagen in Schleswig gesagt, eine angestrebte gemeinsame Außenpolitik von Regierung und Opposition sei eine Frage von großer politischer Bedeutung, denn sie würde nicht nur der jetzt amtierenden Regierung, sondern auch künftigen Regierungen auf lange Sicht die politische Freundschaft der Verbündeten garantieren. Kurz darauf hat er in Erlangen von vier Voraussetzungen für eine gemeinsame Außenpolitik gesprochen ... Die vier Voraussetzungen, die er nennt... sind:
a) Die Sozialdemokraten müßten gemeinsam mit der CDU anerkennen, daß die europäische Einheit und die atlantische Allianz Voraussetzungen für die Erhaltung der Freiheit und für die ErJangung der deutschen Wiedervereinigung sind. (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)
b) Die Sozialdemokratische Partei müsse sich von der alten These distanzieren, daß die Wiedervereinigung nur möglich sei, wenn die Bundesrepublik Deutschland aus der NATO und aus den europäischen Bündnissystemen ausscheide.
c) Die Sozialdemokraten müßten nicht nur in Worten, sondern auch in der Tat bereit sein, mit den Unionsparteien die Lasten und Bürden der Landesverteidigung zu tragen, gleichgültig wer in der Regierungsverantwortung und wer in der Opposition steht.
Dazu gibt es noch ein Anhängsel, das nicht numeriert ist, sondern sozusagen zwischen der dritten und der vierten Voraussetzung steht: Die Sozialdemokraten müßten alle irgendwie gearteten Disengagement-Pläne aufgeben.
d) Die Sozialdemokraten müßten den Begriff des Selbstbestimmungsrechts für ganz Deutschland, das heißt nach freien Wahlen für die Wiedervereinigung, uneingeschränkt anerkennen.
Das sind - mit der kleinen Unterteilung - die vier Voraussetzungen, von denen Herr Strauß gesprochen hat. Nun etwas auf Vorschuß. Für eine Bestandsaufnahme und für eine Diskussion, bei der man eingehend in die Sachverhalte hineinleuchten und hineingehen kann, möchte ich doch heute schon sagen:
Zu a). Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands geht davon aus, daß das europäische und das atlantische Vertragssystem, dem die Bundesrepublik angehört, Grundlage und Rahmen für alle Bemühungen der deutschen Außen- und Wiedervereinigungspolitik ist.
Zu b). Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat nicht gefordert und beabsichtigt nicht, das Ausscheiden der Bundesrepublik aus den Vertrags- und Bündnisverpflichtungen zu betreiben. Sie ist der Auffassung, daß ein europäisches Sicherheitssystem die geeignete Form wäre, den Beitrag des wiedervereinigten Deutschlands zur Sicherheit in Europa und in der Welt leisten zu können. (Sehr wahr! bei der SPD.)
Zu c). Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bekennt sich in Wort und Tat zur Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundrechte und der Grundordnung und bejaht die Landesverteidigung. (Unruhe bei der CDU/CSU.)- Meine Damen und Herren, unterschiedliche Auffassungen über Zweckmäßigkeiten auf diesem Gebiet, die im demokratischen Staat legitim sind und die demokratisch-parlamentarisch ausgetragen werden, bedeuten doch nicht, daß die parlamentarische Opposition weniger verantwortungsfreudig wäre als die Regierung. (Beifall bei der SPD und Abgeordneten der FDP.) ...
Zu d) berufe ich mich auf den Wortlaut des Beschlusses, den der Bundestag am 1. Oktober 1958 einstimmig, mit den Stimmen der Sozialdemokraten, in Berlin gefaßt hat. Er lautet:
Der Deutsche Bundestag erwartet die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands von einem unmittelbaren freien Willensentschluß des gesamten deutschen Volkes in seinen heute noch getrennten Teilen, der nach der Beseitigung der nicht in deutscher Zuständigkeit hegenden Hindernisse herbeizuführen ist.
Der Deutsche Bundestag erklärt seine Bereitschaft, jede Verhandlung zu unterstützen die die Wege zu einem solchen Willensentscheid des deutschen Volkes ebnet, sobald eine Vereinbarung der Vier Mächte diese Möglichkeit erschlossen hat.
Das zu den vier Voraussetzungen oder Fragen ...
Nach unserer Ansicht jedenfalls sind die Zeichen der Zeit so zu deuten: nicht Selbstzerfleischung, sondern Miteinanderwirken im Rahmen des demokratischen Ganzen, wenn auch in sachlicher innenpolitischer Ge?gnerschaft. Innenpolitische Gegnerschaft belebt die Demokratie. Aber ein Feindverhältnis, wie es von manchen gesucht und angestrebt wird, tötet schließlich die Demokratie, (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP) so harmlos das auch anfangen mag. Das geteilte Deutschland - meine Damen und Herren, ich will Sie damit nicht belehren; Sie wissen das wahrscheinlich zum größten Teil selbst - kann nicht unheilbar miteinander verfeindete christliche Demokraten und Sozialdemokraten ertragen. - Ich danke Ihnen für Ihre Geduld. (Langanhaltender Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP.)
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