Wegmarke Godesberg. Kritik am Godesberger Programm durch Peter von Oertzen, führender Repräsentant des linken Parteiflügels der SPD, November/Dezember 1959
Mit dem außerordentlichen Parteitag zu Godesberg ist eine Epoche in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie zu Ende gegangen. Obgleich in der Praxis schon längst vor 1933 eine sozial reformerische demokratische Volkspartei, hatte die SPD doch Teile ihres marxistischen Erbes über die 12 Jahre des Dritten Reiches hinweg bewahrt. In einer 14 Jahre lang dauernden Übergangszeit haben sich diese ideellen Restbestände allmählich aufgelöst. Godesberg hat den Schlußpunkt hinter diese Entwicklung gesetzt. Der Marxismus als geschlossene politische Lehre ist in den Grundsätzen der SPD nicht mehr vertreten. Es gibt nur noch in der sozialdemokratischen Organisation in größerer oder geringerer Zahl einzelne Marxisten, vor denen nun die Frage steht: Was tun?
Ich kann meine Kritik bei dieser Gelegenheit nur andeuten. Sie in einer greifbaren, an der Praxis ausgerichteten, konstruktiven Art und Weise vorzutragen, wird für uns eine wichtige Aufgabe der nächsten Zukunft sein. Hier nur soviel:
1. Das Programmrichtet die Partei einseitig auf die parlamentarische Auseinandersetzung aus. Die Geschichte beweist aber noch zuletzt 1958 in Frankreich, daß sogar die parlamentarische Demokratie selbst, daß sogar die bescheidensten sozialen und politischen Reformen nur durch Entfaltung auch von außerparlamentarischer Macht erkämpft und bewahrt werden können.
2. Das Programm verwischt die Klassenlage und die Klasseninteressen der Arbeitnehmerschaft. Die Verfasser haben sich durch die Oberfläche der Scheinzufriedenheit in der Hochkonjunktur darüber täuschen lassen. Ohne eine bewußte und nachdrücklich auf die Arbeitnehmerschaft ausgerichteten Politik wird aber alle Hoffnung auf die 510f0igc Mehrheit vergeblich bleiben müssen, denn die Arbeitnehmer stellen nun einmal die Hauptmasse der Wähler.
3. Aus diesem Grunde ist auch das betonte Entgegenkommen gegenüber dem selbständigen Mittelstand fragwürdig. Die entscheidenden Wählermassen sind dort nicht zu finden.
4. Das so leidenschaftlich betonte Friedensangebot an die Kirchen ist gewiß gut gemeint. Die wichtigste aktuelle Aufgabe in dieser Richtung aber, das politische Ringen um die Millionenmassen der aus religiösen Gründen CDU wählenden katholischen Arbeitnehmer, ist durch die Formulierungen des Programms kaum berührt. Nur eine konsequente Politik der Sozialisten in den Gewerkschaften und auf wirtschafts- und sozialpolitischem Gebiet kann hier Einbrüche erzielen.
5. Der entscheidende Mangel des Programms ist sein unbegründeter wirtschaftlicher Optimismus. Die Verfasser glauben im Grunde nicht an die Möglichkeit ernsthafter konjunktureller Rückschläge. Einer wirklichen Krise gegenüber ist das vielberufene "wirtschaftspolitische Instrumentarium" des Programms einfach ungenügend. Ohne straffe wirtschaftliche Lenkung und Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien ist ein sozialdemokratischer Wirtschaftsminister im Ernstfall machtlos.
Dies sind nur einige der wundesten Stellen. In der Frage nach der Kontrolle wirtschaftlicher Macht, in der Wehrfrage, in der Außenpolitik, im Verhältnis zum Kommunismus und zur Kolonialrevolution liegen noch weitere. Unter diesen Umständen muß die Zuversicht Herbert Wehners, dieses Programm ermögliche den Sozialdemokraten, alles zu tun, was sie "für das Allgemeinwohl und das Wohl des Volkes schlechthin zu tun für notwendig halten", als eine Illusion angesehen werden.
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