Während in der Frage der friedlichen Nutzung der Atomenergie in den fünfziger und sechziger Jahren ein weitgehender Konsens bestand, war ihr möglicher militärischer Einsatz innenpolitisch von Anfang an heftig umstritten. Als in der NATO Überlegungen angestellt wurden, auch nichtamerikanische Streitkräfte mit taktischen Kernwaffen auszurüsten, sprach sich Bundeskanzler Adenauer in einer Pressekonferenz am 4. April 1957 nachdrücklich für die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen aus, zumal die taktischen Waffen "nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie" seien. Daraufhin richteten die 18 führenden deutschen Atomwissenschaftler einen Aufsehen erregenden Appell an die deutsche Öffentlichkeit.
„Göttinger Erklärung“ der 18 deutschen Atomwissenschaftler, 12. April 1957
Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichneten Atomforscher mit tiefer Sorge. Einige von ihnen haben den zuständigen Bundesministerien ihre Bedenken schon vor mehreren Monaten mitgeteilt. Heute ist die Debatte über diese Frage allgemein geworden. Die Unterzeichneten fühlen sich daher verpflichtet, ihrerseits auf einige Tatsachen hinzuweisen, die alle Fachleute wissen, die aber der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend bekannt zu sein scheinen.
Erstens: Taktische Atomwaffen haben die zerstörende Wirkung normaler Atombomben. Als "taktisch" bezeichnet man sie, um auszudrücken, daß sie nicht nur gegen menschliche Siedlungen, sondern auch gegen Truppen im Erdkampf eingesetzt werden sollen. Jede einzelne taktische Atombombe oder -granate hat eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiroshima zerstört hat. Da die taktischen Atomwaffen heute in großer Zahl vorhanden sind, würde ihre zerstörende Wirkung im ganzen sehr viel größer sein. Als "klein" bezeichnet man diese Bomben nur im Vergleich zur Wirkung der inzwischen entwickelten "strategischen" Bomben, vor allem der Wasserstoffbomben.
Zweitens: Für die Entwicklungsmöglichkeit der lebenausrottenden Wirkung der strategischen Atomwaffen ist keine natürliche Grenze bekannt. Heute kann eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebietes zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik heute schon ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen.
Wir wissen, wie schwer es ist, aus diesen Tatsachen die politischen Konsequenzen zu ziehen. Uns als Nichtpolitikern wird man die Berechtigung dazu abstreiten wollen. Unsere Tätigkeit, die der Tätigkeit der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, belädt uns aber mit einer Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit. Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen.
Wir bekennen uns zur Freiheit, wie sie heute die westliche Welt gegen den Kommunismus vertritt. Wir leugnen nicht, daß die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der Freiheit in einem Teil der Welt leistet. Wir halten aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für unzuverlässig. Und wir halten die Gefahr im Falle ihres Versagens für tödlich.
Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen. Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, daß es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden doch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet. Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichneten bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.
Gleichzeitig betonen wir, daß es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern, und wir wollen an dieser Aufgabe wie bisher mitwirken.
Professor Fritz Bopp, Professor Max Born, Professor Rudolf Fleischmann, Professor Walther Gerlach, Professor Otto Hahn, Professor Otto Haxel, Professor Werner Heisenberg, Professor Hans Kopfermann, Professor Max von Laue, Professor Heinz Maier-Leibnitz, Professor Josef Mattauch, Professor Friedrich-Adolf Paneth, Professor Wolfgang Paul, Professor Wolfgang Riezler, Professor Fritz Straßmann, Professor Wilhelm Walcher, Professor Carl-Friedrieh von Weizsäcker, Professor Karl Wirtz.
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