Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Die Funktionsweise des Gemeinsamen Marktes sowie die Vor- und Nachteile für die Bundesrepublik in einer Zusammenfassung des "Spiegel", 27. Februar 1957
Der gemeinsame Markt
Das Ziel
Die Bundesrepublik, Frankreich, Italien, Belgien, Holland und Luxemburg einschließlich ihrer Überseegebiete erheben im Handelsverkehr untereinander keine Zölle mehr. Der übrigen Welt gegenüber schaffen sie sich einen gemeinsamen Zolltarif; die Bundesrepublik muß die meisten Zölle erhöhen. Investitionen in Überseegebieten der Staaten des Gemeinsamen Marktes werden von den Markt-Partnern gemeinsam finanziert.
Eine europäische Atomgemeinschaft ist Eigentümer aller spaltbaren Materialien für friedliche Zwecke, die im Marktgebiet vorhanden sind. In Frankreich bleibt spaltbares Material für militärische Zwecke in nationaler Regie. Die französische Regierung entscheidet, welche in Frankreich liegenden Kernbrennstoffe für friedliche und welche für militärische Zwecke bestimmt sind. Eine neunköpfige europäische Kommission, die 20 Stimmen repräsentiert (Bundesrepublik, Frankreich, Italien je 5, Holland und Belgien je 2, Luxemburg eine) und von einer 225köpfigen parlamentarischen Körperschaft (darunter 60 Deutschen) kontrolliert wird, steuert den Markt. Eine Gerichtsinstanz schlichtet Streitfälle.
Der Weg
Die Zölle zwischen den Markt-Staaten werden stufenweise in zwölf Jahren, für landwirtschaftliche Produkte in 15 Jahren abgebaut, die Zölle für Einfuhren aus den Überseegebieten der Markt-Staaten generell in zwölf Jahren. Die gemeinsamen Investitionen der Markt-Partner in den Überseegebieten hauptsächlich Frankreichs werden zunächst auf fünf Jahre und 581,25 Millionen Dollar beschränkt. (Aufbringung und Verteilung siehe unten.) Dann soll Bilanz gemacht werden, ob sich der Einsatz gelohnt hat.
Kritische Punkte
Die Währungen der Markt-Staaten haben unterschiedliche Kaufkraft, die Wechselkurse sind verzerrt. Ein Ständiger Ausschuß soll sich an der ziemlich unlösbaren Aufgabe versuchen, ein akzeptables Verhältnis zwischen den Währungen herzustellen.
Die Gestehungskosten der Industrie-Produkte in den Markt-Staaten sind mit verschieden hohen Löhnen und Sozialleistungen belastet. Löhne und soziale Lasten sollen in den sechs Staaten möglichst einander angeglichen werden. Die Landwirtschaft der sechs Markt-Staaten - überall direkt oder indirekt staatlich subventioniert - tritt nur beschränkt in freie Konkurrenz. Ausgleichsklauseln, langfristige Abnahmegarantien zu festen Preisen und so weiter sollen sie weiterhin schützen.
Vorteile für Bonn
Zollfreie Einfuhr aus den Überseegebieten der Markt-Staaten. Freier Zugang zu den Bodenschätzen Französisch-Afrikas. Gute Investitionsmöglichkeiten für deutsches Privatkapital.
Nachteile für Bonn
Wegen der Erhöhung der Zollsätze gegenüber Staaten die dem Gemeinsamen Markt fernstehen, und wegen der Angleichung des sozialen Niveaus der westdeutschen Produktionsarbeiter an - teurere - französische Regelungen besteht die Gefahr von Preissteigerungen. Wenn die zur Zeit gültigen Bonner Handelsabmachungen mit Staaten außerhalb des Gemeinsamen Marktes ausgelaufen sind, verliert die Bundesrepublik die Souveränität über ihre Handelsvertragspolitik. Die Beschränkung des deutschen Außenhandels durch die Zwangszölle des Gemeinsamen Marktes kann Störungen der gesamten Wirtschaft hervorrufen.
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