1. Europäische Integration und Gemeinsamer Markt
Auf der Konferenz von Messina (1.-2. Juni 1955) beschlossen die Außenminister von Frankreich, Italien, Belgien, der Niederlande, Luxemburg und der Bundesrepublik die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes. Am 25. März 1957 wurden in Rom von den Regierungschefs der Sechs die Verträge unterzeichnet, die die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atombehörde (EURATOM) besiegelten. Aus westdeutscher Sicht waren dabei, genau wie zuvor bei der Montanunion, nicht die wirtschaftlichen, sondern die politischen Motive ausschlaggebend. So kam es in dieser Frage zwischen Bundeskanzler Adenauer und Wirtschaftsminister Erhard zu einer tiefgreifenden Auseinandersetzung. Während Erhard 1956/57 die Form des westeuropäischen Integrationsprozesses für "volkswirtschaftlichen Unsinn" hielt und in der Zollunion der Sechs vornehmlich die Abkehr von einer weltoffenen Handelspolitik sah, war für Adenaue I' die Integration "das notwendige Sprungbrett für uns, um überhaupt wieder in die Außenpolitik zu kommen"
Europäische Integration als Richtlinie deutscher Politik. In einem von Erhard als "Integrationsbefehl" kritisierten Schreiben vom 19. Januar 1956 an sämtliche Bundesminister machte Bundeskanzler Adenauer von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch.
Die gegenwärtige außenpolitische Lage enthält außerordentliche Gefahren. Um sie abzuwenden und eine günstige Entwicklung einzuleiten, bedarf es entschlossener Maßnahmen. Dazu gehört vor allem eine klare, positive deutsche Haltung zur europäischen Integration.
In dieser europäischen Integration sehen die entscheidenden Staatsmänner des Westens den Angelpunkt der Entwicklung ... Wenn die Integration gelingt, können wir bei den Verhandlungen sowohl über die Sicherheit wie über die Wiedervereinigung als wesentliches neues Moment das Gewicht eines einigen Europas in die Waagschale werfen. Umgekehrt sind ernsthafte Konzessionen der Sowjetunion nicht zu erwarten, solange die Uneinigkeit Europas ihr Hoffnung gibt, diesen oder jenen Staat zu sich herüberzuziehen, dadurch den Zusammenhalt des Westens zu sprengen und die schrittweise Angliederung Europas an das Satellitensystem einzuleiten. Hinzu kommt, daß die dauerhafte Ordnung unseres Verhältnisses zu Frankreich nur auf dem Wege der europäischen Integration möglich ist. Sollte die Integration durch unser Widerstreben oder unser Zögern scheitern, so wären die Folgen unabsehbar.
Daraus ergibt sich als Richtlinie unserer Politik, daß wir den Beschluß von Messina entschlossen und unverfälscht durchführen müssen. Noch stärker als bisher muß der politische Charakter dieses Beschlusses beachtet werden, der nicht allein eine technische Kooperation aus fachlichen Erwägungen, sondern eine Gemeinschaft herbeiführen soll, die (auch im Interesse der Wiedervereinigung) die gleiche Richtung des politischen Willens und Handelns sichert. Der OEEC-Rahmen genügt dafür nicht. In den Dienst dieser politischen Zielsetzung müssen alle fachlichen Erwägungen treten.
Insbesondere muß für die Durchführung des Programms von Messina folgendes gelten:
1. Die Integration zunächst unter den Sechs ist mit allen in Betracht kommenden Methoden zu fördern, also sowohl auf dem Gebiet der allgemeinen (horizontalen) Integration wie bezüglich der geeigneten (vertikalen) Teilintegration.
2. Hierbei ist von vornherein nach Möglichkeit die Schaffung geeigneter gemeinsamer Institutionen anzustreben, um im Sinne der großen politischen Zielsetzung eine feste Bindung der Sechs herbeizuführen.
3. Die recht gut gelaufenen Beratungen über die Herstellung eines gemeinsamen europäischen Marktes - d. h. eines Marktes, der einem Binnenmarkt ähnlich ist - müssen mit Nachdruck zu Ende geführt werden. Dabei müssen europäische Organe mit Entscheidungsbefugnissen geschaffen werden, um das Funktionieren dieses Marktes zu sichern und gleichzeitig die politische Weiterentwicklung zu fördern.
4. Ausgehend von dem Gedanken des Gemeinsamen Marktes muß auch für den Verkehr eine echte Integration der Sechs angestrebt werden. Das gilt insbesondere von der Luftfahrt; eine grundsätzliche Ablehnung oder Verzögerung von Integrationsplänen für die Produktion, das Beschaffungswesen und die Betriebsführung auf diesem Gebiet ist politisch nicht zu verantworten.
5. Das gleiche gilt für die Energie, insbesondere die Kernenergie. Es ist eine zwingende politische Notwendigkeit, jeden Zweifel darüber zu beseitigen, daß wir nach wie vor zu unseren Erlärungen von Messina stehen wonach eine europäische Atomgemeinschaft mit Entscheidungsbefugnissen, gemeinsamen Organen und gemeinsamen Finanz- und sonstigen Durchführungsmitteln gegründet werden soll. Die Amerikaner sehen, wie sie offiziell erklärt haben, in einer europäischen Atomgemeinschaft, die im Gegensatz zur OEEC eigene Rechte und Verantwortlichkeiten hat, ein entscheidendes Moment der politischen Entwicklung. Sie sind bereit, eine solche Atomgemeinschaft mit allem Nachdruck zu unterstützen. Andererseits läßt sich nach Auffassung der We1töffentlichkeit die friedliche Nutzung der Atomenergie von der Möglichkeit der Herstellung von Atombomben praktisch nicht trennen. Der deutsche Versuch einer rein nationalen Atomregelung würde daher vom Ausland mit größtem Mißtrauen aufgenommen werden. Insbesondere können wir, wenngleich selbstverständlich Deutschland nicht diskriminiert werden darf und die deutsche Forschung und Industrie möglichst freien Raum erhalten müssen, eine gemeinsame europäische Bewirtschaftung einzelner Stoffe nicht ablehnen, wenn sie aus Sicherheitsgründen erforderlich ist.
Ich bitte, das vorstehend Dargelegte als Richtlinien der Politik der Bundesregierung (Art. 65 GG) zu betrachten und danach zu verfahren.
Gez. Adenauer
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