Wandlungen der deutschen Elite. Aus einer Untersuchung des Soziologen Wolfgang Zapf, 1965
Welche sozialen Umschichtungen hat Deutschland seit Beginn dieses Jahrhunderts durchgemacht?
1. Aus der verspäteten deutschen Industrialisierung ist nicht das Junkertum, sondern das Kleinbürgertum angeschlagen hervorgegangen; dennoch bildet es zu Beginn des Jahrhunderts noch immer eine geschlossene Gruppe von etwa einem Viertel der Bevölkerung. Die Unterklassen verloren ihren agrarischen Charakter, sie sind urbanisiert und industrialisiert worden; innerhalb ihrer bilden die Landarbeiter eine Minderheit. Ihren proletarischen Kern stellt die Industiearbeiterschaft dar, hinzugekommen sind große proletaroide Randgruppen von Einzelselbständigen und Kleinbauern ....
2. Dreißig Jahre [d. h. 1930] später sind die neuen Schichtungslinien deutlich. sichtbar geworden. „Obwohl sich die Abstiegsprozesse aus dem Kleinbürgertum haufen, hat sich die gesellschaftliche Mitte verbreitet: Im neuen Mittelstand entwickelte eine Gruppe von Abhängigen Verhaltensmuster und Mentalitäten, die eindeutig von denen des Proletariats verschieden sind. Die Qualifikationsansprüche haben sich in der Gesellschaft insgesamt so stark differenziert, daß innerhalb der Klasse der Abhängigen selbst ein Aufstieg möglich geworden ist. Während sich die Situation der nichtindustriellen Proletaroiden, besonders der Kleinhändlerschaft, weiter verschärft hat, waren qualifizierte Angestellte und Techniker z. T. imstande, bis dicht an die gesellschaftliche Spitze heranzukommen. .
3. Die Gesellschaft hat sich nicht im Sinne der marxistischen Prophezeiungen polarisiert, sondern differenziert. Dieser Prozeß hat bis 1960 angehalten. Ökonomisch sind immer weniger Personen selbständig, und doch ist die Mitte weiter angewachsen. Schon aus der Berufsstatistik läßt sich ersehen, wie stark sich die Angestelltenschaft vergrößert hat.
Sie kann größtenteils nicht zur Unterschicht gerechnet werden. Das ist der harte Kern der These von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Mit einer weiteren Angleichung der Konsum- und Verhaltungsgewohnheiten verschwinden allerdings - das muß bei allen Schichtungsanalysen beachtet werden - die Machtunterschiede keineswegs, denn Macht ist in Gesellschaften nicht geschichtet, sondern dichotomisch verteilt.
4. So kann man sagen, daß sich in nicht viel mehr als hundert Jahren die deutsche Gesellschaft aus einer einheitlich ländlichen in eine entwickelt industrielle verwandelt hat. Waren bourgeoisoide und proletarische Elemente um die Mitte des vorigen Jahrhunderts noch Randphänomene, so sind heute die nichtindustriellen Schichten im Begriff, ebenfalls von der Industrialisierung erfaßt zu werden ...
5. In der Ober klasse hat sich die industrielle Bourgeoisie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Platz neben der feudalen Herrenschicht erobert und die kleine Gruppe des Bildungsbürgertums überholt. Bis zum Untergang des Kaiserreichs hat sie willig ihr Geld in die Ehe mit den Mächtigen eingebracht. Den politischen und wirtschaftlichen Zusammebruch des alten Systems, in den auch die Bildungsbürger mit hineingerissen wurden, hat eine kleine wirtschaftliche Oberschicht überlebt... Während aber die Positionen des ökonomischen Reichtums in festen Händen blieben, sich sogar kumulierten, während sich als Spitze eines "neuen Mittelstandes" eine Gruppe von Experten in die Prestigepositionen von Adel und Bildungsbürgern teilte, blieb im Zentrum der Macht ein Vakuum, das die republikanischen Politiker nur so lange ausfüllen konnte, bis mit der Nazi-Elite eine Clique von Machtspezialisten in dieses Vakuum eindrang und die Machtpositionen zwölf Jahre lang okkupiert hat. Als die Nazielite von außen zerschlagen wurde, entstand erneut ein gefährliches Vakuum an der Spitze. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde es jedoch "unter Aufsicht", d.h. zunächst von den Siegermächten, aufgefüllt, und zwar im Westen und Osten nach verschiedenen Prinzipien und mit sehr unterschiedlichen Elitegruppen ...
Die sowjetische Besatzungsmacht hat das Entnazifizierungsprogramm dazu benutzt, die geschlagene totalitäre Elite durch eine andere zu ersetzen; einige der prominentesten Kommunisten wurden direkt aus Moskau importiert, sie haben teilweise die russische Staatsbürgerschaft nicht abgelegt und ihre Entscheidungen gleichsam als Mitglieder der sowjetischen Exekutive getroffen. Die ostdeutschen Kommunisten begannen sofort damit, die Zwangsvereinigung aller politischen Kräfte zu betreiben. Sehr bald wurde die Vereinheitlichung auf andere gesellschaftliche Bereiche ausgedehnt. Das Ziel war und ist der Aufbau einer geschlossenen herrschenden Klasse, die Verwaltungen, Management, Justiz, Generalität, Erziehung und auch die Kirche unter die Führung der Einheitspartei zusammenfaßt. Die neue ostdeutsche Elite ist monolithisch und totalitär; politische Kader kontrollieren in einem vielfältigen System von Massenorganisationen praktisch jeden Winkel der Gesellschaft und jegliche Entwicklung...
Sobald die westlichen Besatzungsmächte unter dem Druck einer veränderten politischen Konstellation den Plan aufgegeben hatten, vor dem wirtschaftlichen Neuaufbau Westdeutschlands den politischen Aufbau abzuschließen, mußte auf erfahrene Experten der Verwaltung, des Militärs und vor allem der Wirtschaft zurückgegriffen werden, unbesehen ihres Entnazifizierungsbescheids '" Zwar wurden die politischen Führungsgruppen radikal ausgewechselt, in die nicht-politischen Spitzenpositionen kehrten aber einzeln und nacheinander große Teile der früheren Experten zurück. Was ihren sozialen Hintergrund, ihre Herkunft und Karriere anbelangt, so zeigt sich - wider manche Erwartungen - "trotz drastischer und plötzlicher Wandlungen der politischen Systeme ... eine große Kontinuität und nur ein begrenztes Maß langsamen Wandels im sozialen Hintergrund der deutschen Führungsgruppen während des letzten halben Jahrhunderts und besonders während der letzten zwanzig oder dreißig Jahre".
Für die soziologischen Beobachter deuten aber einige Anzeichen darauf hin, daß sich vor dem Hintergrund der sozialen Kontinuität die Werte der westdeutschen Führungsgruppen und die politischen und gesellschaftlichen Institutionen, in denen sie agieren, nicht unerheblich gewandelt haben '" Es gibt Ansätze zu einem funktionierenden repräsentativen System. Werte und Institutionen haben sich von der autoritären und totalitären Vergangenheit entfernt, wenn auch keineswegs alle autoritären oder totalitären Ingredienzen beseitigt worden sind. Es ist dieser veränderte Kontext, der der neuen westdeutschen Oberschicht trotz aller Kontinuitäten neue Funktionen und einen neuen Stellenwert zuweist ...
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