5. Gesellschaftliche Wandlungen
Die Frage, ob die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik in ihrem Kern nach wie vor durch die Strukturen der kapitalistischen Klassengesellschaft bestimmt ist oder ob eine Nivellierung in Richtung auf eine Mittelstandsgesellschaft eingetreten sei, wird in den Sozialwissenschaften kontrovers diskutiert.
Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft. Die gesellschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik aus Sicht des Soziologen Helmut Schelsky, 1965
Die Frage nach der Klassengesellschaft, wie sie von Marx aus zu definieren ist, heißt doch: Gibt es noch "die zwei großen feindlichen Lager", die sich auf allen Lebensgebieten im Interessengegensatz gegenüberstehen? Und bestimmt diese große Kluft zwischen den Klassen noch an erster Stelle unser soziales Geschehen? Diese Frage muss man heute als Sozialwissenschaftler wohl eindeutig verneinen: in diesem Sinne sind wir gegenwärtig keine Klassengesellschaft mehr…
In der deutschen Gesellschaft der zwei letzten Generationen sind vor allem umfassende und strukturell tiefgreifende soziale Aufstiegs- und Abstiegschancen zu verzeichnen. Zunächst haben der kollektive Aufstieg der technischen, kaufmännischen und Verwaltungs-Angestellten in den neuen Mittelstand der industriellen Gesellschaft von unten her an der Schließung der großen sozialen Kluft gearbeitet.
Mit diesen Aufstiegsprozessen kreuzen sich in etwas jüngerer Zelt breite soziale Abstiegs- und Deklassierungsprozesse die im ersten Weltkrieg begannen, in den Jahren nach 1945 in den Heimatvertreibungen und anderen Arten der Deklassierung und des Besitzverlustes bisher gipfelten und besonders die Schichten des ehemaligen Besitz- und Bildungsbürgertums betroffen haben. Das Zusammenwirken dieser sich begegnenden Richtungen des sozialen Auf- und Abstiegs führt einem Abbau der Klassengegensätze zu einer sozialen Nivellierung der Gesellschaft in einer sehr breiten, verhältnismäßig einheitlichen Gesellschaftsschicht, die ebensowenig proletarisch wie bürgerlich genannt werden kann. Eine umfassende und sich ständig ausdehnende Sozialpolitik auf der einen und eine strenge, sich in den höheren Einkommensstufen schnell verschärfende Steuerpolitik auf der anderen Seite sind zu Dauerfaktoren dieses sozialen Nivellierungsvorgangs geworden, dem sich heute nur noch wenige und sehr kleine, für die Struktur der Gesellschaft relativ unwichtige Gruppenentziehen können.
Dieser relativen Angleichung der wirtschaftlichen Positionen und der weitgehenden Einheitlichkeit des politischen Status folgt vor allem auch eine Vereinheitlichung der sozialen und kulturellen Verhaltensformen und Daseinswünsche in einem Lebenszuschnitt, den man, gemessen an der alten Schichtenstufung in der „unteren Mitte“ lokalisieren muss. Man könnte ihn als "kleinbürgerlich-mittelständisch" bezeichnen, wenn diese Begriffe nicht durch ihren Klassencharakter zu allzuviel Mißverständnissen führten. Dieser verhältnismäßig einheitliche Lebensstil der nivellierten Mittelstandsgesellschaft - wie ich diese Sozialstruktur einmal vorläufig nennen möchte - wird nämlich keineswegs mehr durch die alten Klassenkennzeichen bestimmt, sondern diese neue "mittelständische" Lebensform erfüllt sich und gewinnt ihr soziales Selbstbewußtsein darin, fast einheitlich an den materiellen und geistigen Gütern des modernen Zivilisationskomforts teilzunehmen. Hier liegt die große Rolle, die die industrielle und wirtschaftliche Entwicklung selbst, nämlich die Ausdehnung der Massenproduktion, in der Einebnung des Klassengegensatzes gespielt hat. Der universale Konsum der industriellen und publizistischen Massenproduktionen sorgt auf allen Lebensgebieten dafür, daß fast jedermann seinen Fähigkeiten angemessen das Gefühl entwickeln kann, nicht mehr "ganz unten" zu sein, sondern an der Fülle und dem Luxus des Daseins schon teilhaben zu können; vor allem aber ist diese Teilhabe zum selbstverständlichen Sozialanspruch aller geworden. In diesem Sinne liegt in der industriellen Massenproduktion von Konsum-, Komfort- und Unterhaltungsgütern, deren sich ja auch die ehemals oberen, bürgerlichen Schichten heute schon voll bedienen, die wirksamste Überwindung der Klassenstruktur der industriellen Gesellschaft selbst begründet, allerdings auch ihre Uniformierung in Lebensstil und sozialen Bedürfnissen. Diese verhältnismäßige Nivellierung ehemals schichten- und klassentypischer Verhaltensformen des Familienlebens, der Berufs- und Ausbildungswünsche der Kinder, der Wohn-, Verbrauchs- und Unterhaltungsformen, ja der kulturellen politischen und wirtschaftlichen Reaktionsformen überhaupt ist der heute vielleicht dominierendste Vorgang in der Dynamik unserer modernen Gesellschaft .
Die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung in den fünfziger und sechziger Jahren bestätigt Schelskys These der "sozialen Nivellierung" nur bedingt. Andererseits geben die zur Verfügung stehenden statistischen Werte aber auch keinen Hinweis auf eine Verschärfung der dualistischen Klassenspannung zwischen Kapital und Arbeit, wie sie von marxistischer Seite immer wieder prognostiziert worden ist. Richtig ist vielmehr, von einer "relativen Konstanz" in der Einkommens- und Vermögensverteilung auszugehen. Gleichzeitig muß allerdings gesehen werden, daß die allgemeine Einkommensentwicklung in den fünfziger Jahren die Voraussetzung für den Eintritt der Bundesrepublik in das Stadium des Massenkonsums (siehe Q 25) schuf, verbunden mit einer bisher nicht gekannten Tendenz zur Vereinheitlichung des Lebensstils.
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