Das Ergebnis von Moskau. Aus der Erklärung des Bundeskanzlers Dr. Konrad Adenauer vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 1955
... Die Delegation der Bundesrepublik hat in den Gesprächen mit den Vertretern der Sowjetregierung mit großer Klarheit darauf hingewiesen, daß eine Normalisierung der Beziehungen unter keinen Umständen darin bestehen kann, daß man den anomalen Zustand der Teilung Deutschlands legalisiert. Es ist auch darauf hingewiesen worden, daß das Bestehen diplomatischer Beziehungen zwischen zwei Staaten nicht mit einem freundschaftlichen Vertragsverhältnis gleichzusetzen ist, unsere sowjetischen Verhandlungspartner selbst haben erklärt, daß sie diplomatische Beziehungen auch zu Staaten unterhielten, mit denen sie im übrigen erhebliche politische und ideologische Meinungsverschiedenheiten hätten.
Andererseits ist folgendes zu bedenken: Die Sowjetunion ist eine der vier Siegermächte, ohne deren Mitwirkung das vornehmste Anliegen unserer Politik, die Herstellung der Einheit unseres Landes, nicht verwirklicht werden kann. Das Fehlen von Beziehungen zwischen diesen beiden Staaten, die sich daraus für uns ergebende Unmöglichkeit, unsere nationalen Anliegen auch selbst in Moskau zu vertreten, ist eine Anomalie. Würde man uns auch deshalb nicht mit Recht unklug genannt haben, wenn wir das von der Sowjetregierung gemachte Angebot, die Beziehungen aufzunehmen, abgelehnt hätten? ...
Die Westverträge stehen normalen Beziehungen mit der Sowjetunion nicht nur nicht im Wege. Die Verträge sind vielmehr eine in die Zukunft weisende Möglichkeit einer internationalen Entspannung, die für die Welt den Frieden, für Deutschland die staatliche Einheit in Freiheit bringen soll. An unserer Vertragstreue lassen wir nicht den geringsten Zweifel zu ...
Die Vorgeschichte und der Verhandlungsverlauf haben gezeigt, daß die Sowjetregierung großen Wert auf die Herstellung der diplomatischen Beziehungen legt. Dabei mögen Prestigegründe eine Rolle spielen, vielleicht auch eine gewisse Entspannungsstrategie oder andere Momente, die noch nicht ganz überschaubar sind. Jedenfalls erwies es sich, daß die Vertreter der Sowjetregierung mit großer Empfindlichkeit auf die Möglichkeit reagierten, daß ihr Vorschlag abgelehnt oder die Annahme an Bedingungen geknüpft werde ...
Die Vertreter der Sowjetregierung zeigten sich zunächst von unseren Forderungen auf Freilassung der zurückgehaltenen Personen wenig beeindruckt. Die Verhandlungen über diese Frage nahmen tagelang einen so negativen Verlauf, daß wir allen Ernstes unsere Abreise in Erwägung ziehen mußten. Die Wendung trat ein, als die Herren Bulganin und Chruschtschow nun, nachdem sie zuvor härtesten Widerstand geleistet hatten, am Montag abend das Angebot machten, die Kriegsgefangenen freizulassen, wenn die diplomatischen Beziehungen aufgenommen würden. Die beiden Herren gaben mir darauf ihr Wort, und sie haben es vor den versammelten Delegationen wiederholt. Sie haben diese Zusage auf mein Drängen hin dahin erweitert, daß auch in der Sowjetunion zurückgehaltene Zivilpersonen, die wir ihnen durch Listen nachwiesen, freigelassen werden ... Ministerpräsident Bulganin versicherte mir wörtlich: Wir fangen mit unseren Maßnahmen an, ehe Sie Bonn auf Ihrem Rückflug erreicht haben ...
Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen machte völkerrechtliche Vorbehalte notwendig, um den deutschen Standpunkt in lebenswichtigen Fragen unseres Volkes zu wahren und die Entscheidungsfreiheit einer künftigen gesamtdeutschen Regierung nicht zu präjudizieren. Diese Vorbehalte sollten sicherstellen, daß in der Erklärung über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen nicht ein Verzicht auf den bisherigen Rechtsstandpunkt der Bundesregierung bezüglich
1. der Grenzfragen,
2. des Rechts der Bundesregierung, Sprecher des ganzen deutschen Volkes
zu sein,
3. der Nichtanerkennung der sogenannten "DDR"
gesehen werden kann. Wir haben mit den Vertretern Sowjetrußlands in offiziellen Verhandlungen sehr offen darüber gesprochen. Sie haben erklärt, sie hätten andere Ansichten, aber wenn wir es für notwendig hielten, völkerrechtlichen Konsequenzen vorzubeugen, so hätten sie nichts dagegen, wenn wir diese Vorbehalte machten, und zwar in einer Weise, die wir wählten, sei es in Form eines Briefes, sei es in einer Erklärung an die Presse. Ich habe infolgedessen am Tage meiner Abreise einen Brief an Ministerpräsident Bulganin gerichtet, der folgenden Wortlaut hat: "Aus Anlaß der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der UdSSR erkläre ich:
1. Die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschlamlund der Regierung der UdSSR stellt keine Anerkennung des derzeitigen beiderseitigen territorialen Besitzstandes dar. Die endgültige Fcstsctzung dcr Grcnzen Dcutschlands bleibt dem Friedensvertrag vorbehalten.
2. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Regierung der Sowjetunion bedeutet keine Änderung des Rechtsstandpunktes der Bundesregierung in bezug auf ihre Befugnis zur Vertretung des deutschen Volkes in internationalen Angelegenheiten und in bezug auf die politischen Verhältnisse in denjenigen deutschen Gebieten, die gegenwärtig außerhalb ihrer effektiven Hoheitsgewalt liegen." ...
Die Haltung der Bundesregierung gegenüber der Sowjetzonenregierung wird - wie aus dem ersten Vorbehalt hervorgeht - durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik nicht berührt. Die Regierung der sogenannten "DDR" ist nicht auf Grund wirklich freier Wahlen gebildet worden, sie verfügt daher über kein echtes Mandat des Volkes, ja, sie wird von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt; es herrschen in der sowjetischen Besatzungszone Rechtsunsicherheit und Unfreiheit, und die Verfassung steht nur auf dem Papier.
Die Bundesregierung ist daher nach wie vor die einzige frei und rechtmäßig gebildete deutsche Regierung, die allein befugt ist, für das ganze Deutschland zu sprechen ...
Auch dritten Staaten gegenüber halten wir unseren bisherigen Standpunkt bezüglich der sogenannten "DDR" aufrecht. Ich muß unzweideutig feststellen, daß die Bundesregierung auch künftig die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der "DDR" durch dritte Staaten, mit denen sie offizielle Beziehungen unterhält, als einen unfreundlichen Akt ansehen würde, da er geeignet wäre, die Spaltung Deutschlands zu vertiefen ... Wir haben in außerordentlich schwierigen Verhandlungen das im menschlichen und im politischen Bereich Mögliche aus der gegebenen Situation herausgeholt. Die Tragweite der zu treffenden Entscheidungen hat mich bewogen, die Wirksamkeit der Moskauer Vereinbarungen von dem Einverständnis des Bundestages abhängig zu machen. Ich verkenne nicht die in den Moskauer Entscheidungen liegende Problematik. Ohne jedes Risiko werden sich aber die schwierigen politischen Probleme unseres Staates nicht lösen lassen, wird die Einheit Deutschlands nicht zu verwirklichen sein. Ich glaube, Ihnen, meine Damen und Herren, empfehlen zu dürfen, sich mit den Moskauer Ergebnissen einverstanden zu erklären.
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.