Die skeptische Generation. Aus einer Analyse des Soziologen Helmut Schelsky,1963
Man hört heute zuweilen in der Erwachsenenwelt die Forderung: "Wir brauchen neue Ideen für die Jugend", und die Enttäuschung der Älteren über den Mangel an ,Idealismus' in der gegenwärtigen jungen Generation ist ziemlich weit verbreitet; diese Einstellung verkennt, daß ,Ideen' genügend kursieren, die Jugend aber gar nicht danach sucht, weil ihr die Bereitschaft, sie zu glauben, fehlt, die in den 20er und 30er Jahren gerade aus den Krisen des politischen Geschehens aufstieg ... Die in Kriegs- und Nachkriegszeit erfahrene Not und Gefährdung der eigenen Familie durch Flucht, Ausbombung, Deklassierung, Besitzverlust, Wohnungsschwierigkeiten, Schul- und Ausbildungsschwierigkeiten oder gar durch den Verlust der Eltern oder eines Elternteils haben einen sehr großen Teil der gegenwärtigen Jugendgeneration frühzeitig in die Lage versetzt, für den Aufbau und die Stabilisierung ihres privaten Daseins Verantwortung oder Mitverantwortung übernehmen zu müssen. Die Gefährdung der vitalen und einfachsten materiellen Daseinsgrundlagen und die damit verbundene Erschütterung der unmittelbarsten Personenbeziehungen innerhalb der Familie und anderer kleingruppenhafter Sozialbeziehungen, im Lebensbereich der Schule und der beruflichen Ausbildung und Entwicklung haben eine den anderen Jugendgenerationen in diesem Ausmaß und dieser Eindringlichkeit nicht zugängliche neue Bedürfnisgrundlage der Jugend in ihrem Streben nach sozialer Verhaltenssicherheit geschaffen: sie sah und sieht sich heute vor der Notwendigkeit und Aufgapc gestellt, diese persönliche und private Welt des Alltags, vom Materiellen her angefangen, selbst stabilisieren und sichern zu müssen, was keiner der beiden vorangehenden Jugendgenerationen in diesem Umfange und in dieser Intensität angesonnen worden ist. Indem für diese Jugend nicht nur die Welt der sozialen Großstrukturen, der ,sekundäre' Horizont, in den sie als Jugend hineinwachsen wollte, sondern der Bereich der ,primären' Sozial- und Gruppenbindungen, der Ausgangsbereich ihrer kindlichen Verhaltensheimat, zutiefst verunsichert und gefährdet wurde, ging ihr Streben nach Verhaltenssicherheit und Bewahrung des Vertrauten auch auf die Festigung dieser persönlichen und privaten Lebensverhältnisse aus. Damit hat sich das typisch jugendliche Suchen nach Verhaltenssicherheit in dieser Generation genau auf die sozialen Bereiche zurückgewendet, deren Anliegen einst von der Generation der Jugendbewegung im gleichen Streben nach Verhaltenssicherheit als unjugendlich abgelehnt und verlassen worden waren: die eigene Familie, die Berufsausbildung und das berufliche Fortkommen, die Meisterung des Alltags ... Selbstverständlich haben die politischen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte im politischen oder, genauer gesagt, im unpolitischen Verhalten der gegenwärtigen Jugendgeneration ihre Spuren hinterlassen. Der Zusammenbruch und die Untaten einer Politik und eines Systems, denen ein großer Teil der Jugend einmal gläubig und vertrauend angehangen hatte, die persönlichen Nachteile und Diffamierungen, denen auch ein Teil der Jugend dieser Generation auf Grund ihrer politischen oder militärischen Vergangenheit unterworfen war, vor allem aber wohl die Erkenntnis, in welchem Maße ein sozialer und politischer Idealismus durch die modernen Großorganisationen der Politik ideologisch ausgebeutet werden kann, haben zu einer Skepsis und Ablehnung gegenüber der Politik der Vergangenheit und der Gegenwart zugleich geführt, zu einem Mißtrauen gegen politische Ideologien und Ideen, zu eben dem ,Ohne-uns' gegenüber allen öffentlichen und gesamtgesellschaftlichen Ansprüchen, das sich auf das Private und das Berufliche, auf den in eigener Urteilskraft und Verantwortung überschaubaren Bereich des Daseins bewußt beschränken will.
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