2. Konrad Adenauer und die „Kanzlerdemokratie“
Die Kanzlerdemokratie. Eine Analyse des Regierungssystems der Bundesrepublik in der Ära Adenauer durch den Publizisten Rüdiger Altmann (1963)
So wie sie uns vor Augen steht, stellt die Kanzlerdemokratie eine Zusammenfassung sehr verschiedener Elemente dar. Sie reicht von der persönlichen Macht des Kanzlers über seine Stellung als Parteiführer bis zu der Art, wie er seine amtlichen Kompetenzen ausübt. Man könnte fast sagen, daß sich gerade in dieser Verbindung ihr eigentlicher Charakter ausgeprägt hat. Trotzdem muß sie - zumal niemand die Verfassungsmäßigkeit dieser Art von Regierung ernsthaft bestritten hat - eine Basis im Grundgesetz der Republik haben, wenn sie nicht gar von der Verfassung gewollt ist.
Und tatsächlich sind im Grundgesetz eine Reihe von Bestimmungen getroffen worden, die der Position der Regierung und insbesondere des Kanzlers eine gewisse Stabilität verschaffen sollen. So wird der Bundeskanzler ohne Aussprache vom Parlament gewählt und kann, sobald er vom Bundespräsidenten ernannt ist, seinerseits die Ernennung der Minister vorschlagen. Er braucht dazu nicht einmal das ausdrückliche Vertrauen des Parlaments. Dasselbe gilt für seine Regierungserklärung. Das Parlament hat auch nicht das Recht, gegen einzelne Minister mit dem Mißtrauensvotum vorzugehen. Vor allem aber kann es den Kanzler und seine Regierung nur durch die Wahl eines Nachfolgers stürzen...
Zunächst schränkt das Grundgesetz die plebiszitäre Gewalt des Volkes auf den engstmöglichen Raum ein. Es gibt keine Volksbefragung mehr und keinen Volksentscheid, keine unmittelbare Wahl des Staatsoberhauptes, lediglich partielle Abstimmungen über die Neuordnung der einzelnen Länder. Allzu leicht könnte sonst der Volkswille in den Bann machthungriger Demagogen geraten. Auch die Parteien könnten im Falle einer Krise radikalisiert werden. Oder aber radikale Gruppen könnten zu einer Sturmflut heranwachsen, die - wie weiland die NSDAP - den normalen Parteienstaat überspülen. Solche Parteien müssen rechtzeitig illegalisiert werden. Und da die Parteien an der staatlichen Macht teilnehmen, muß ihre innere Ordnung demokratischen Grundsätzen entsprechen.
Nicht genug damit: Selbst das Parlament ist nicht gefeit davor, seine Funktionsfähigkeit und seine Kraft zur positiven Entscheidung zu bewahren. Aber die Regierung darf nicht negativen Mehrheiten zum Opfer fallen. Nur die positive Mehrheit, die weiß, was sie will, die fähig ist, ein neues Kabinett zu bilden, darf deshalb nach dem Grundgesetz die Regierung stürzen. Und schließlich wird das Staatsoberhaupt entmachtet, seines Einflusses auf die Exekutive beraubt, seine Kompetenz auf die bloße Repräsentation reduziert. Man sieht, hier werden die Kräfte und Mächte des Verfassungslebens von ihrem Funktionieren her, genauer gesagt, aus der Gefahr Ihres Nichtfunktionierens ihrer Entartung, begriffen. Die Verfassung selbst ist ein Funktionsschema das Sicherungen gegen alle Arten von "Kurzschlüssen" enthält, mögen sie durch das Volk, die Parteien, das Parlament oder
das Staatsoberhaupt ausgelöst werden.
Aber dann hört das Mißtrauen plötzlich auf: Der Regierung gehören die wohlwollende Sorge und die Sympathie des Grundgesetzes .... Das Grundgesetz will die Regierung bewahren vor dem Druck der radikalen Parteien, vor der Autorität des Staatsoberhaupts, vor der Willkür zufälliger Parlamentsmehrheiten, die einzelne Minister herausschießen oder gar das Kabinett stürzen, ohne selbst in die Verantwortung einzutreten.
Vor einer starken, d. h. autoritären Regierung glaubte hingegen der Parlamentarische Rat keine Sorge haben zu müssen.
... So ist die Regierung auf Kosten vor allem des Parlaments zum stärksten Verfassungsorgan der Bundesrepublik geworden. In der Stabilisierung der Regierung wird das Mißtrauen des Grundgesetzes in das Funktionieren der Demokratie konstruktiv. Die Krisenangst der Verfassung schlägt ins Gouvernementale um. Freilich war das alles weniger politisch im Sinne eines positiven Verfassungsbildes als technich-funktionell gedacht - als Krisenverhütungsanlage. An die Kanzlerdemokratie dachte man damals jedenfalls nicht ...
Sosehr diese Entwicklung den Motiven des Grundgesetzes widersprechen mochte, so wenig verstieß sie gegen seinen Wortlaut. Wir wollen nicht so weit gehen zu sagen, daß die Verfassungsväter mit der Stabilisierung der Regierung ein Kuckucksei ins Nest des Parlamentarismus gelegt hätten.
Jedenfalls gab der Funktionalismus der Verfassung einem so routinieren Techniker der Macht wie Adenauer genau die Chance, die er brauchte. ... Die CDU und die SPD mögen ihre festen Anhänger haben. Aber den Ausschlag gaben sowohl 1953 wie 1957 die breiten Wählermassen, die nicht mehr zwischen den Parteien und ihren Programmen, sondern für oder gegen Adenauer stimmten. Das war der entscheidende Schritt zur Kanzlerdemokratie ...
Die Macht des Kanzlers vervollkommnet sich - wiederum unter ungewollter Assistenz der Verfassung - in seinem Kabinett. Das Grundgesetz wollte, indem es das Einzelmißtrauen gegen die Minister verhinderte, auf eine audrückliche parlamentarische Investitur des Gesamtkabinetts verzichtete und die Position des Kanzlers gegen die Labilität eines pluralistischen Parlaments durch das konstruktive Mißtrauensvotum absicherte, lediglich die Funktionsfähigkeit der Regierung erhöhen. Aber es hat dadurch dem Kanzler die Möglichkeit gegeben, Minister ohne parlamentarischen Rückhalt ernennen zu lassen oder sie allmählich von einem solchen Rückhalt zu trennen. Sie sind dann in Sicherheit vor dem Parlament, sogar vor ihrer eigenen Parteifraktion, aber desto abhängiger vom Kanzler, der für seinen Schutz Gehorsam verlangt. Freilich hat das zur Voraussetzung, daß der Kanzler selbst über eine so stabile Majorität verfügt, wie Adenauer sie sich geschaffen hat...
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.