Die "Streitbare Demokratie" des Grundgesetzes. Aus der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts zum KPD-Verbot vom 17. August 1956
Es ist nicht denkbar, den Wesenskern des Grundgesetzes (Würde, Freiheit und Gleichheit der Person) aufrechtzuerhalten, wenn eine Staatsordnung errichtet würde, bei der die Prinzipien der Diktatur des Proletariats allein Geltung haben. Soziale rechtsstaatliche Demokratie, Mehrparteiensystem und Recht auf Opposition, geistige Freiheit und Toleranz, geduldige Reformarbeit und fortwährende Auseinandersetzung mit anderen grundsätzlich als gleichberechtigt angesehenen Überzeugungen stehen in unvereinbarem Gegensatz zur Diktatur des Proletariats.
Diesem Staatssystem liegt die Auffassung zugrunde, es müsse um der Ziele willen - die eine politische Partei oder Klasse als allgemeinverbindlich proklamiert - durch die Diktatur dieser Klasse die ganze freiheitliche Ordnung unter Einsetzung radikalster Mittel beseitigt und das Opfer von Generationen verlangt werden, denen weder Freiheit noch Gleichheit gewährt werden kann.
Auch die Vertreter der KPD haben in den mündlichen Verhandlungen die Unvereinbarkeit der beiden Staatsordnungen bejaht. Proletarische Revolution und Diktatur des Proletariats erstrebt die KPD zwar nicht als aktuelles, unmittelbar verwirklichbares Ziel. Aber die Art und Weise, wie sie die proletarische Revolution und die Diktatur des Proletariats systematisch zum Gegenstand ihrer parteipolitischen Schulung, Propaganda und Agitation im politischen Kampf innerhalb der Bundesrepublik Deutschland macht, und ihr gesamtes Verhalten als Partei beweisen, daß sie schon jetzt darauf ausgeht, die freiheitliche demokratische Grundordnung des Grundgesetzes zu untergraben ...
Die liberalen Verfassungen hatten bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinein mit politischen Parteien, die die Grundlagen einer freiheitlichen Staatsordnung bekämpften, kaum zu rechnen; so war ihnen die Haltung unbedingter Toleranz und Neutralität gegenüber allen Parteien angemessen. Das ändert sich mit dem Aufkommen der "totalitären" Parteien nach dem Ersten Weltkrieg ... Das natürliche Streben jeder politischen Partei nach Einfluß auf den staatlichen Machtapparat wird bei diesen Parteien zum Anspruch auf eine "Machtergreifung", die, wenn sie erreicht wird, ihrem Wesen nach auf Ausschaltung aller anderen politischen Richtungen ausgehen muß ... Gegenüber solchen Parteien ist der freiheitlichen Demokratie, die die Würde des Menschen zu verteidigen und zu sichern hat, eine neutrale Haltung nicht mehr möglich, und es wird ein verfassungspolitisches Problem, weIche rechtlichen Mittel sie einsetzen will, um die sich nun für sie ergebende Forderung "keine unbedingte Freiheit für die Feinde der Freiheit" zu lösen. Die Weimarer Verfassung hat auf eine Lösung verzichtet, ihre politische Indifferenz beibehalten und ist deshalb der aggressivsten dieser "totalitären" Parteien erlegen.
Der verfassungsgeschichtliche Standort des Grundgesetzes ergibt sich daraus, daß es unmittelbar nach der - zudem nur durch Einwirkung äußerer Gewalten ermöglichten - Vernichtung eines totalitären Staatssystems eine freiheitliche Ordnung erst wieder einzurichten hatte. Die Haltung des Grundgesetzes zu den politischen Parteien - wie überhaupt die von ihm verwirklichte spezifische Ausformung der freiheitlichen Demokratie - ist nur verständlich auf dem Hintergrund der Erfahrungen des Kampfes mit diesem totalitären System. Der Einbau wirksamer rechtlicher Sicherungen dagegen, daß solche politischen Richtungen jemals wieder Einfluß auf den Staat gewinnen könnten, beherrschte das Denken des Verfassungsgebers. Wenn das Grundgesetz so einerseits noch der traditionellen freiheitlich-demokratischen Linie folgt, die den politischen Parteien gegenüber grundsätzliche Toleranz fordert, so geht es doch nicht mehr so weit, aus bloßer Unparteilichkeit auf die Aufstellung und den Schutz eines eigenen Wertsystems überhaupt zu verzichten. Es nimmt aus dem Pluralismus von Zielen und Wertungen, die in den politischen Parteien Gestalt gewonnen haben, gewisse Grundprinzipien der Staatsgestaltung heraus, die, wenn sie einmal auf demokratische Weise gebilligt sind, als absolute Werte anerkannt und deshalb entschlossen gegen alle Angriffe verteidigt werden 60 sollen' soweit zum Zwecke dieser Verteidigung Einschränkungen der politischen Betätigungsfreiheit der Gegner erforderlich sind, werden sie in Kauf genommen. Das Grundgesetz hat also bewußt den Versuch einer Synthese zwischen dem Prinzip der Toleranz gegenüber allen politischen Auffassungen und dem Bekenntnis zu gewissen unantastbaren Grundwerten der Staatsordnung unternommen. Art. 21 Abs. 2 GG steht somit nicht mit einem Grundprinzip der Verfassung in Widerspruch; er ist Ausdruck des bewußten verfassungspolitischen Willens zur Lösung eines Grenzproblems der freiheitlichen demokratischen Staatsordnung, Niederschlag der Erfahrungen eines Verfassungsgebers, der in einer bestimmten historischen 70 Situation das Prinzip der Neutralität des Staates gegenüber den politischen Parteien nicht mehr rein verwirklichen zu dürfen glaubte, Bekenntnis zu einer - in diesem Sinne - "streitbaren Demokratie". Diese verfassungsrechtliche Entscheidung ist für das Bundesverfassungsgericht bindend.
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.