1. Grundgesetz und Verfassungsordnung
Ansprache von Bundespräsident Theodor Heuss beim Amtsantritt am 12. September 1949
Es ist - davon ist neuerlich nicht viel zu sagen - das geschichtliche Leid der Deutschen, daß die Demokratie von ihnen nicht erkämpft wurde, sondern als letzte, als einzige Möglichkeit der Legitimierung eines Gesamtlebens kam, wenn der Staat in Katastrophen und Kriegen zusammengebrochen war. Dies ist die Last, in der der Beginn nach 1918, in der der Beginn heute mit uns steht, das Fertigwerden mit den Vergangenheiten. Diese Aufgabe war 1918 da. Damals dynastische Empfindungen, die weitergingen, von denen nicht gering zu sprechen ist; heute das Problem, vom Ausland stärker gesehen und groß gemacht, wieweit die nahe Vergangenheit, die hinter uns liegt, noch seelisch zwischen uns vorhanden ...
Der Bundesrat und der Bundestag werden vor schier unzählige Aufgaben gestellt sein: die Vereinheitlichung des Rechts, das in den Ländern und in den Zonen auseinandergelaufen ist, die Fragen des Lastenausgleichs, Finanzprobleme, die Fragen des Wohnungsbaus, der Kriegsbeschädigten, der Kriegshinterbliebenen, die Sorge für die Vertriebenen, die Eingliederung Deutschlands in die Weltwirtschaft, ohne die wir nicht leben können. Die Frage aber ist die erste im Sinne des Rangs, nicht im Sinne des Morgen-damit-fertig-Werdens. Wann wird es möglich sein, die vornehmste Aufgabe hier mit zu lösen, daß wir die staatliche Selbständigkeit für unser Volk und unseren werdenden Staat zurückgewinnen?
Wir wissen, daß eine Gesamtwende der Fragestellungen gegenüber den historischen Vorstellungen und Gegebenheiten von nationalstaatlicher Bindung im Werden ist und daß die europäische Gesamtstaatlichkeit nun nicht mehr bloß Traum- oder Wunschbild von Idealisten oder Geschichtskonstrukteuren ist, sondern daß sie als realistische Aufgabe vor uns steht.
Deutschland braucht Europa, aber Europa braucht auch Deutschland. Wir wissen es im Geistigen: wir sind in der Hitlerzeit ärmer geworden, als uns die Macht des Staates von dem Leben der Völker absperrte. Aber wir 30 wissen auch dies: die anderen würden ärmer werden ohne das, was Deutschland bedeutet ...
Verehrte Mitglieder des Bundestags, des Bundesrats und der Bundesversammlung! Im Bewußtsein meiner Verantwortung vor Gott trete ich dieses Amt an. Indem ich es übernehme, stelle ich dieses Amt und unsere gemeinsame Arbeit unter das Wort des Psalmisten: "Gerechtigkeit erhöhet ein Volk."
(Langanhaltender lebhafter Beifall.)
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