4. Pariser Verträge und Souveränität 1955
Der eindeutige Sieg der CDU bei der Bundestagswahl vom 6. September 1953 wurde vom Kanzler nicht zu Unrecht auch als ein Plebiszit für seinen Kurs in der Deutschlandpolitik gewertet. Gleichwohl war die große innenpolitische Auseinandersetzung zu diesem Zeitpunkt noch nicht beendet, weil die Regierung keine schlüssige Antwort geben konnte, wie denn der Widerspruch zwischen der Westintegration und dem Wiedervereinigungsgebot zu lösen sei. In der sog. Paulskirchenbewegung formierte sich noch einmal eine von breiten gesellschaftlichen Kräften getragene Opposition gegen den Abschluß der Blockbildung. Daß die militärische Einbindung der Bundesrepublik in den Westen im übrigen auch in Frankreich innenpolitisch keineswegs unumstritten war, zeigte Im August 1954 das Scheitern des EVG-Vertrags in der französischen Nationalversammlung (Abb. 7, S. 37). Die anschließende rasche Verständigung über den NATO-Beitritt der Bundesrepublik im Herbst 1954 und das Inkrafttreten der Pariser Verträge im Mai 1955 bezeugten andererseits die Entschlossenheit der westlichen Regierungen, die westeuropäischatlantische Integration der Bundesrepublik schnell und endgültig abzusichern.
Das "Deutsche Manifest" von 1955. In der Frankfurter Paulskirche fand am 29. 1. 1955 eine von über 1000 Teilnehmern besuchte Protestkundgebung gegen die Außenpolitik der Bundesrepublik statt. Die sog. Paulskirchenbewegung vereinte verschiedene Gruppen aus Kirchen, Gewerkschaften und der SPD. Das in Frankfurt verabschiedete "Deutsche Manifest" gegen die Ratifizierung der Pariser Verträge wurde u. a. von dem SPD-Vorsitzenden Erich Ollenhauer, dem späteren Bundespräsidenten Dr. Gustav Heinemann, dem stellvertretenden DGB-Vorsitzenden Georg Reuter, dem evangelischen Theologen Prof. Helmut Gollwitzer und dem Nationalökonomen Prof. Alfred Weber unterzeichnet.
Aus ernster Sorge um die Wiedervereinigung Deutschlands sind wir überzeugt, daß jetzt die Stunde gekommen ist, Volk und Regierung in feierlicher Form zu entschlossenem Widerstand gegen die sich immer stärker abzeichnenden Tendenzen einer endgültigen Zerreißung unseres Volkes aufzurufen.
Die Antwort auf die deutsche Schicksalsfrage der Gegenwart - ob unser Volk in Frieden und Freiheit wiedervereinigt werden kann oder ob es in dem unnatürlichen Zustand der staatlichen Aufspaltung und einer fortschreitenden menschlichen Entfremdung leben muß - hängt heute in erster Linie von der Entscheidung über die Pariser Verträge ab.
Die Aufstellung deutscher Streitkräfte in der Bundesrepublik und in der Sowjetzone muß die Chancen der Wiedervereinigung für unabsehbare Zeit auslöschen und die Spannung zwischen Ost und West verstärken. Eine solche Maßnahme würde die Gewissensnot großer Teile unseres Volkes unerträglich steigern. Das furchtbare Schicksal, daß sich die Geschwister einer Familie in verschiedenen Armeen mit der Waffe in der Hand gegenüberstehen, würde Wirklichkeit werden.
In dieser Stunde muß jede Stimme, die sich frei erheben darf, zu einem unüberhörbaren Warnruf vor dieser Entwicklung werden. Unermeßlich wäre die Verantwortung derer, die die große Gefahr nicht sehen, daß durch die Ratifizierung der Pariser Verträge die Tür zu Viermächteverhandlungen über die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Freiheit zugeschlagen wird.
Wir appellieren an Bundestag und Bundesregierung, alle nur möglichen Anstrengungen zu machen, damit die vier Besatzungsmächte dem Willen unseres Volkes zur Einheit Rechnung tragen.
Die Verständigung über eine Viermächtevereinbarung zur Wiedervereinigung muß vor der militärischen Blockbildung den Vorrang haben.
Es können und müssen die Bedingungen gefunden werden, die für Deutschland und seine Nachbarn annehmbar sind, um durch Deutschlands Wiedervereinigung das friedliche Zusammenleben der Nationen Europas zu sichern.
Das deutsche Volk hat ein Recht auf seine Wiedervereinigung.
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