3. Verpasste Chance? Die Stalin-Note vom 10.3.1952
Die Kontroverse über das sowjetische Wiedervereinigungsangebot aus dem Jahre 1952 und die damals möglicherweise vertanen Chancen zur Wiederherstellung der nationalstaatlichen Einheit Deutschlands hat in den letzten Jahren nach der Öffnung insbesondere der amerikanischen und britischen Archive neue Nahrung bekommen. Aus den Akten wird deutlich, daß in den Jahren zwischen 1945 und 1955 auf westlicher Seite durchaus ernsthaft Alternativen zur Westintegration der Bundesrepublik diskutiert und eine "Neutralisierung" Gesamtdeutschlands auch nach der Gründung der Bundesrepublik in britischen und amerikanischen Regierungskreisen zumindest zeitweilig ernsthaft in Erwägung gezogen worden ist.1 Auf der Grundlage unseres gegenwärtigen Kenntnisstandes sind folgende Schlußfolgerungen möglich: 1) Die Seriosität des sowjetischen Angebots vom März 1952 wird in der Forschung kaum mehr bezweifelt. Auch die westlichen Regierungen nahmen die Offerte Stalins sehr ernst und sahen darin mehr als einen nur taktisch angelegten Schachzug. 2) Der Entscheidungsprozeß, der zur dauerhaften Ausbildung der deutschen Teilung führte, darf nicht nur aus der Perspektive des Kalten Krieges und des Ost-West-Konfliktes interpretiert werden. Aus französischer und britischer Sicht spielte die Frage des europäischen Gleichgewichts und die Furcht vor einem zu starken Gesamtdeutschland in Mitteleuropa eine mindestens genauso entscheidende Rolle. 3) Neue Dokumente belegen schließlich immer deutlicher, daß Adenauer die Wiedervereinigung nicht ernsthaft gewollt hat, vor allem auch deshalb, weil sein Vertrauen in die politische Reife der Deutschen begrenzt war. Kennzeichnend für den sich gegenwärtig abzeichnenden Trend in der Adenauer-Forschung ist das Urteil des Historikers Arnulf Baring:
"Adenauer hat die eigenen Leute hinters Licht geführt, wenn er behauptete, die Wiedervereinigung sei das oberste Ziel seiner Politik ... Aber gerade das war Adenauers Größe, daß er als erster begriff, daß es keine Chance für eine Wiedervereinigung in Freiheit gab und eine Neutralisierung eines wiedervereinigten Deutschlands den politischen Selbstmord bedeuten würde." 2
1. Andreas Hillgruber, Alliierte Pläne für eine .. Neutralisierung" Deutschlands 1945 bis 1955, Opladen 1987.
2. Zit. nach Joset Foschepoth (Hg.), Adenauer und die Deutsche Frage, Göltingen 1988, S. 15 f.
3.1. Das sowjetische Wiedervereinigungsangebot 1952
Die Stalin-Note: Note der Regierung der Sowjetunion an die Regierungen Frankreichs, des Vereinigten Königreichs und der Vereinigten Staaten; 10. März 1952.
Entwurf für einen Friedensvertrag mit Deutschland
Seit Beendigung des Krieges mit Deutschland sind fast sieben Jahre vergangen. Jedoch hat Deutschland immer noch keinen Friedensvertrag. Es ist gespalten und befindet sich gegenüber anderen Staaten in einer nicht gleichberechtigten Situation. Diesem unnormalen Zustand muß ein Ende gemacht werden. Das entspricht dem Willen aller friedliebender Völker. Ohne den schnellsten Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland kann eine gerechte Behandlung der rechtmäßigen nationalen Interessen des deutschen Volkes nicht gewährleistet werden ...
Der Abschluß eines Friedensvertrages mit Deutschland wird für das deutsche Volk die Bedingungen eines dauerhaften Friedens herbeiführen, die Entwicklung Deutschlands als eines einheitlichen, unabhängigen, demokratischen und friedliebenden Staates in Übereinstimmung mit den Potsdamer Beschlüssen fördern und dem deutschen Volk die Möglichkeit einer friedlichen Zusammenarbeit mit anderen Völkern sichern.
Davon ausgehend, haben die Regierungen der Sowjetunion, der Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritanniens und Frankreichs beschlossen, unverzüglich mit der Ausarbeitung eines Friedensvertrages mit Deutschland zu beginnen.
Die Regierungen der UdSSR, der USA, Großbritanniens und Frankreichs sind der Meinung, daß die Vorbereitung eines Friedensvertrages unter Beteiligung Deutschlands, vertreten durch eine gesamtdeutsche Regierung, erfolgen muß, und daß der Friedensvertrag mit Deutschland auf folgender Grundlage aufgebaut sein muß:
Grundlagen des Friedensvertrags mit Deutschland
Die Teilnehmer
Großbritannien, die Sowjetunion, die USA, Frankreich, Polen, die Tschechoslowakei, Belgien, Holland und die anderen Staaten, die sich mit ihren Streitkräften am Krieg gegen Deutschland beteiligt haben.
Politische Leitsätze
1. Deutschland wird als einheitlicher Staat wiederhergestellt. Damit wird der Spaltung Deutschlands ein Ende gemacht, und das geeinte Deutschland gewinnt die Möglichkeit, sich als unabhängiger, demokratischer, friedliebender Staat zu entwickeln.
2. Sämtliche Streitkräfte der Besatzungsmächte müssen spätestens ein Jahr nach Inkrafttreten des Friedensvertrages aus Deutschland abgezogen werden. Gleichzeitig werden sämtliche ausländische Militärstützpunkte auf dem Territorium Deutschlands liquidiert.
3. Dem deutschen Volke müssen die demokratischen Rechte gewährleistet sein, damit alle unter deutscher Rechtsprechung stehenden Personen ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion die Menschenrechte und die Grundfreiheiten genießen, einschließlich der Redefreiheit, der Pressefreiheit, des Rechts der freien Religionsausübung, der Freiheit der politischen Überzeugung und der Versammlungsfreiheit.
4. In Deutschland muß den demokratischen Parteien und Organisationen freie Betätigung gewährleistet sein; sie müssen das Recht haben, über ihre inneren Angelegenheiten frei zu entscheiden, Tagungen und Versammlungen abzuhalten, Presse- und Publikationsfreiheit zu genießen.
5. Auf dem Territorium Deutschland dürfen Organisationen, die der Demokratie und der Sache der Erhaltung des Friedens feindlich sind, nicht bestehen.
6. Allen ehemaligen Angehörigen der deutschen Armee, einschließlich der Offiziere und Generale, allen ehemaligen Nazis, mit Ausnahme derer, die nach Gerichtsurteil eine Strafe für von ihnen begangene Verbrechen verbüßen, müssen die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte wie allen anderen deutschen Bürgern gewährt werden zur Teilnahme am Aufbau eines friedliebenden, demokratischen Deutschland.
7. Deutschland verpflichtet sich, keinerlei Koalitionen oder Militärbündnisse einzugehen, die sich gegen irgendeinen Staat richten, der mit seinen Streitkräften am Krieg gegen Deutschland teilgenommen hat.
Das Territorium
Das Territorium Deutschlands ist durch die Grenzen bestimmt, die durch die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz der Großmächte festgelegt wurden.
Wirtschaftliche Leitsätze
Deutschland werden für die Entwicklung seiner Friedenswirtschaft, die der Hebung des Wohlstandes des deutschen Volkes dienen soll, keinerlei Beschränkungen auferlegt.
Deutschland werden auch keinerlei Beschränkungen in bezug auf den Handel mit anderen Ländern, die Seeschiffahrt und den Zutritt zu den Weltmärkten auferlegt.
Militärische Leitsätze
1. Es wird Deutschland gestattet sein, eigene nationale Streitkräfte (Land-, Luft- und Seestreitkräfte) zu besitzen, die für die Verteidigung des Landes notwendig sind. '
2. Deutschland wird die Erzeugung von Kriegsmaterial und -ausrüstung gestattet werden, deren Menge oder Typen nicht über die Grenzen dessen hinausgehen dürfen, was für die Streitkräfte erforderlich ist, die für Deutschland durch den Friedensvertrag festgesetzt sind.
Deutschland und die Organisation der Vereinten Nationen
Die Staaten, die den Friedensvertrag mit Deutschland abgeschlossen haben, werden das Ersuchen Deutschlands um Aufnahme in die Organisation der Vereinten Nationen unterstützen.
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