"Deutschlands Stellung und Aufgabe in der Welt". Außenpolitische Grundsatz rede Adenauers auf dem 1. Bundesparteitag der CDU in Goslar, 20. Oktober 1950.
Über Deutschlands Stellung und Aufgabe in der Welt zu sprechen, wäre noch vor einem Jahr nicht möglich gewesen, vor zwei Jahren hätte man ein derartiges Unterfangen als unbegreiflich empfunden. Ich glaube, daß man in diesen vielleicht das Schicksal Europas entscheidenden Monaten um Europas willen darüber sprechen muß.
Man ist es dem deutschen Volke und der Welt schuldig, darüber zu sprechen. Noch drücken uns zwar schwere soziale Sorgen - Wohnungsnot, Lastenausgleich, Kriegsopferversorgung - noch sind wir weder politisch noch wirtschaftlich frei, wenngleich wir auf dem Wege zur Freiheit sind, noch sind die beiden Teile Deutschlands durch den eisernen Vorhang getrennt, aber unser Aufbau, unsere innere Konsolidierung, hat doch schon solche Fortschritte gemacht, daß das deutsche Volk in allen seinen Schichten wieder beginnt, sich Gedanken über seine Zukunft zu machen. Das deutsche Volk, das schwer gelitten hat, das schwer arbeitet, fragt sich mit Recht, ob sich seine Arbeit, seine Mühen einmal in einer besseren Zukunft lohnen werden. Es fragt nach dem Zweck, nach der Bedeutung des ganzen Geschehens in Europa und der Welt ...
Es hat Sternstunden der Menschheit gegeben, aber auch Perioden tiefster Sorge und Not; Perioden, in denen die Zukunft in schwere Wolken gehüllt ist, in denen sich das Geschick der Menschheit für Generationen entscheidet, sei es zum Guten, sei es zum Bösen.
In einer solchen Zeit leben wir jetzt: in unserer Zeit wird es sich entscheiden, ob Freiheit, Menschenwürde, christlich-abendländisches Denken der Menschheit erhalten bleibt oder ob der Geist der Finsternis und der Sklaverei, ob der anti-christliche Geist für eine lange, lange Zeit seine Geißel über die hilflos am Boden liegende Menschheit schwingen wird.
... Wenn wir die politischen Verhältnisse des Jahres 1914 vergleichen mit dem heutigen Zustand, dann erkennen wir erst, was in der, geschichtlich betrachtet, so kurzen Zeitspanne von 36 Jahren sich ereignet hat. Wir nehmen wahr, welch ungeheuren Kräfte durch die beiden Kriege entfesselt worden sind und welch' neuer, noch unendlich größerer Katastrophe die Menschheit in reißender Schnelligkeit entgegentreibt, wenn nicht rechtzeitig, wenn nicht buchstäblich im letzten Augenblick, entscheidende Maßnahmen getroffen, feste Dämme gezogen werden ...
Und jetzt? Deutschland in zwei Teile gewaltsam zerrissen, politisch und wirtschaftlich schwer geschädigt, außenpolitisch ein Vakuum. Frankreich hat sich von den schweren Wunden, die es in den beiden Kriegen bekommen hat, bisher nicht erholen können. Das Gleiche gilt von Italien. England hat, obgleich es der Staatskunst seiner Lenker gelungen ist, in erheblichem Umfange die alten Empire-Verbindungen aufrecht zu erhalten, schwer in seinem wirtschaftlichen und politischen Einfluß gelitten und seine Weltgeltung zum Teil verloren.
Sowjet-Rußland fühlt sich nicht mehr als europäische, sondern als bolschewistische Macht. Sowjet-Rußland ist es gelungen, sich anzugliedern: die baltischen Staaten: Litauen, Lettland, Estland, das polnische Weißrußland, das ganze übrige Polen, Ungarn, Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien und fast die Hälfte Deutschlands in der Form der Sowjetzone ... Darüber hinaus hat Sowjet-Rußland in europäischen Ländern starke 5. Kolonnen errichtet und aufgebaut, kommunistische Parteien gegründet und finanziert. Es ist so in der Lage, auf die politischen Geschicke anderer europäischer Länder ohne kriegerische Maßnahmen unter Umständen einen entscheidenden Einfluß in seinem Sinne auszuüben. Es hat planmäßig und zielbewußt alle Kampfmittel des Kalten Krieges vorbereitet. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika haben sich seit 1914 zu einer Weltmacht allerersten Ranges entwickelt. Man kann, ohne zu übertreiben, sagen, daß seit der Zeit des Römischen Reiches unter Kaiser Augustus kein Land jemals eine solche Macht in Händen gehabt hat, wie sie jetzt die Vereinigten Staaten besitzen. Es ist die stärkste Militärmacht die stärkste wirtschaftliche Macht der Erde. Es ist ein großes Glück für die Menschheit, daß das amerikanische Volk freiheitsliebend, fortschrittlich und entschlossen ist. Es hat überraschend schnell die Rolle, die ihm nunmehr in der Geschichte der Menschheit zugefallen ist, begriffen, es hat klar erkannt, welche Verantwortung ihm seine Macht und sein Reichtum gegenüber der gesamten Menschheit auferlegt ...
Die beiden Super-Mächte, USA und Sowjet-Rußland, sind ideologisch völlig verschiedener Struktur. In Sowjet-Rußland: Vermassung und Beherrschung der Massen, rücksichtslose Ausbeutung durch eine kleine Oberschicht in der Form eines totalitären Staates, Sklaverei, Konzentrationslager, Verfolgung des Christentums. In den Vereinigten Staaten: Freiheit, Würde und Schutz der Einzelperson, Schutz auch der Person gegenüber einer Staatsallmacht. Der Gegensatz zwischen den beiden SuperMächten ist so groß, daß er schon an sich geeignet ist, Spannungen hervorzurufen.
Die aus der ideologischen Verschiedenheit herauswachsenden Spannungen werden gesteigert durch das Verhalten Sowjet-Rußlands seit 1945 ...
Wo in der Welt jetzt schon kriegerische Unruhen bestehen, in Korea in Indochina, hat Sowjet - Rußland seine Hand im Spiel ...
Die Entschlossenheit des amerikanischen Präsidenten Truman mit der er sofort nach dem Ausbruch der Feindseligkeit in Korea eingegriffen hat, die Energie, die die amerikanische Waffe im Verein mit den anderen UNO-Ländern gezeigt hat, die klare und unzweideutige Sprache, die Präsident Truman auf seiner in den letzten Tagen gehaltenen Rede in San Francisco gesprochen hat, eine Sprache, die Sowjet-Rußland deutlich macht, welch' Wagnis es läuft, wenn es nicht endlich Frieden gibt, sichern Präsident Truman einen hervorragenden Platz in der Geschichte nicht nur seines Landes, sondern in der Geschichte der Welt ...
Es werden sowohl bei uns wie auch im Auslande Stimmen laut, die befürchten, daß die Stellung eines deutschen Kontingentes in einer amerikanisch-europäischen Armee ein Wiederaufkommen militaristischen Denkens bei uns zur Folge haben werden. Darauf erwidere ich folgendes: Die 90 Bundesregierung, der Bundestag und ich persönlich werden uns mit ganzer Kraft dafür einsetzen, daß das militaristische Denken, das seine schärfste Ausprägung in der nationalsozialistischen Zeit gefunden hat, unter keinen Umständen wiederkommt ...
Von den Beschlüssen der New Yorker Außenministerkonferenz ist für die Stellung Deutschlands in der Welt besonders bedeutsam die völkerrechtliche Anerkennung der Bundesrepublik Deutschland als Vertretern des deutschen Volkes. Wir haben uns schon bei der Schaffung des Grundgesetzes als die berufenen Vertreter auch derjenigen Deutschen betrachtet, die der Bundesrepublik Deutschland noch nicht angehören können. Wir werden das mit wenn möglich noch größerer Energie und Entschlossenheit tun. Die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands ist unser großes Ziel, das wir niemals aus dem Auge lassen und das wir - davon bin ich fest überzeugt - auch erreichen werden. Unseren deutschen Brüdern und Schwestern in der Ostzone rufe ich hier von Goslar aus zu: Harret aus und hofft auf uns. Wir werden wieder zusammenkommen. Nichts kann uns abhalten, dieses Ziel zu verfolgen ...
Es ist notwendig, daß das deutsche Volk weiß, daß es mit diesem Weltgeschehen noch eine Aufgabe zu erfüllen hat. In unserer Zeit wird es sich entscheiden, ob Freiheit, Menschenwürde, christlich-abendländisches Denken der Menschheit erhalten bleiben oder ob der Geist der Finsternis und der Sklaverei für eine lange Zeit seine Geißel über die hilflos am Boden liegende Menschheit schwingen wird. Deutschlands Aufgabe ist es, einen Frieden in Freiheit zu sichern.
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