Martin Bucers Ratschlag zur Duldung der Juden in Hessen und darauf erlassene Judenordnung, 13. Dezember 1538 - Anfang 1539
Landgraf Philipp von Hessen schickt an Statthalter, Kanzler und Räte zu Kassel am 13. Dezember 1538 die Stellungnahme der hessischen Juden zu Bucers Bedenken hinsichtlich ihrer Duldung. Ihm erscheinen die vorgelegten Artikel "nit ungleichmessig". Er schlägt vor, sofern die Räte keine Einwände haben, die Juden ein oder zwei Jahre zu den von ihnen genannten Bedingungen zu dulden und zu sehen, wie sie sich halten, zumal er erfahren hat, daß die hessischen Juden den Untertanen "mer liebs und guts mit leihen und vorstrecken gethan und weniger wuchers gnommen, dan wol etwa di christen". Auch gibt die Bibel keinen Hinweis, daß man die Juden ganz vertreiben soll.
Am 18. Dezember bestätigen die Räte dem Landgrafen den Empfang der "articul, die judden belangend", die sie den Gelehrten übergeben haben, und übersenden den daraufhin von diesen verfaßten "raitschlag", mit dem sie sich einverstanden erklären. Beigefügt ist ein von sechs hessischen Geistlichen mitunterzeichnetes Gutachten Bucers, in dem sich dieser nach eingehenden juristischen und theologischen Erörterungen für die Vertreibung der Juden ausspricht, im Falle einer Duldung aber strengste Auflagen empfiehlt (Verbot aller Handels- und Leihgeschäfte und des Wuchers, kein Synagogenneubau, keine Glaubensdisputationen mit Christen, aber Besuch christlicher Predigten).
Am 23. Dezember erklärt Landgraf Philipp, daß ihm diese Auflagen zu hart erscheinen, da die Juden unter solchen Bedingungen nicht in Hessen leben können. Er fordert ein neues Gutachten, damit den Juden endlich mitgeteilt werden kann, ob sie bleiben können oder abziehen müssen.
Der darauf verfaßte Entwurf einer hessischen Judenordnung macht in elf Artikeln unter anderem folgende Auflagen: Keine Verpflichtung der Juden durch ihre Rabbiner auf die Gesetze des Talmud, der nur vom Übertritt zum Christentum abhält; kein Synagogenneubau; keine Glaubensdiskussionen mit Christen, ausgenommen besonders dazu ausgewählte Priester; Besuch christlicher Predigten; Kauf und Verkauf von Waren nur in Abstimmung mit den Zünften; kein Wucher; Geldverleih nur unter amtlicher Aufsicht, wenn es sich um mehr als 1 fl. handelt; keine Beamtenbestechung; Ernennung von Juden, die die Einhaltung dieser Ordnung überwachen und Verstöße nach ihren Gesetzen ahnden; Zahlung des Schutzgeldes.
Bucer heißt diese Artikel mit Schreiben vom 27. Dezember gut, betont aber, daß sich die Juden wegen ihres Unglaubens unbedingt den Christen unterzuordnen haben. Man soll ihnen aber den Handel untersagen, da sie sich kein Gewissen daraus machen, die Christen zu betrügen, und das Kaufen und Verkaufen die Leute ohnedies "zu junckern machet auß frembder arbeyt". Statt dessen sollte man eine Arbeit finden und ihnen verordnen, von der sie sich nähren können.
Der Entwurf wird den Juden durch Lazarus mitgeteilt, und sie erklären darauf, daß es ihnen unmöglich ist, "den talhmuth verschweren und eigentlich nach dem gesetz und propheten leben", weil dazu niemand in der Lage ist. Allerdings gibt es in Hessen keinen Juden, der den Talmud versteht oder besitzt. Man wird aber nachforschen lassen, und falls sich doch ein Talmud in Hessen findet, diesen den Gelehrten des Landgrafen übergeben, damit sie selbst beurteilen können, ob etwas Unrechtes darin steht. Die Juden bitten, sie vom Besuch christlicher Predigten freizustellen. Auch die Auflagen hinsichtlich des Geldverleihs erscheinen ihnen so hart, daß auch ein Christ sie nicht halten könnte. Das Verbot der Beamtenbestechung wollen die Juden ein-halten, aber nicht beschwören, denn "bei uns judden nit gebrauchlich ist, in solchen fellen so leichtlich eyde zu thun". Die Juden bitten, ihnen das Schutzgeld nicht zu erhöhen.
Darauf erläßt Landgraf Philipp Anfang 1539 die folgende Judenordnung:
1. Die Juden sollen die christliche Religion nicht lästern und sich ihrerseits an die von Moses und den Propheten gegebenen Gebote halten, auch die Ihren mit keiner "satzunge irer talmudischen lerer, welche dem gesetz und den propheten nit gemeß seien", beschweren, um gutherzige Juden nicht vom Übertritt zum Christentum abzuhalten.
2. Es sollen keine neuen Synagogen gebaut und die alten "mit aller stille" gebraucht werden.
3. Disputation über ihre Religion sollen die Juden nur mit besonders dazu bestimmten Predigern führen.
4. Sie sollen samt Weibern und Kindern zu den besonders dazu bestimmten Predigern kommen, um deren Predigten zu hören.
5. Sie sollen in "zimlicher weise" kaufen und verkaufen, doch nur in Städten und Orten, wo keine Zünfte sind oder die Zünfte sie dulden. Der Preis ihrer Waren ist zuvor durch Beamte, Bürgermeister oder Rat festzulegen.
6. Bei angedrohter Strafe und dem Verlust aller Güter sollen die Juden keinen betrügerischen Handel treiben. Wer solches entdeckt und anzeigt, soll den 10. Pfennig von dem verfallenen Gut erhalten.
7. Wucher ist untersagt. Verleihen sie 1 fl. oder mehr, soll dies nur im Beisein landgräflicher Beamter oder des Rats geschehen. Der erlaubte Zinssatz beträgt 5 % oder soviel wie man den Christen gibt. Nimmt ein Jude höhere Zinsen, soll er die ausgeliehene Summe und die Hälfte seines Besitzes verlieren und mit vier Wochen Turmhaft bestraft werden. Vier-zehn Tage Turmhaft, Verlust des halben Besitzes und der ausgeliehenen Summe sowie einer gleichhohen Summe, die halb dem Rat, halb den landgräflichen Beamten zu zahlen ist, droht, wenn ein Jude einer Frau Geld ohne Wissen ihres Mannes oder einem Mann Geld ohne Wissen seiner Frau und ohne Billigung der Amtleute leiht.
8. Die Juden sollen schwören, daß sie keinen Bürger, Beamten oder Ratsherren bestechen.
9. Die Todesstrafe hat verwirkt, wer ein Christenweib schändet oder beschläft.
10. Die Juden haben sich nach der Herkunft der von ihnen gekauften oder beliehenen Waren genau zu erkundigen, da ihnen bei Erwerb oder Beleihung von gestohlenem Gut die Todesstrafe droht.
11. Auswärtigen Juden ist jeder Handel in Hessen untersagt.
12. Beamte, Bürgermeister und Rat sind gehalten, für die Einhaltung dieser Ordnung zu sorgen.
13. Die Juden können eigene Beauftragte ernennen, die neben den Amtsknechten für die Einhaltung der Ordnung sorgen.
14. Das Schutzgeld wird nach Vereinbarung und Vermögen bezahlt.
Quellennachweis:
Sign.: 3 PA Nr.2923 S.128-132; 17 I Alte Kasseler Räte Nr.80 B1.3-9, 12-36; 86 Hanauer Nachträge d Nr.611.
Druck: Kohls, Judenratschlag S.342-361, 379-390; Druck der Judenordnung: Landesordnungen, Bd.1 S.120-121; vgl. auch Lenz, Briefwechsel, Bd.1 S.59f; Salfeld, Judenpolitik, S.533. Zu den Erneuerungen der Judenordnung 1543 und 1545 vgl. Günther, Bilder aus der hess. Vorzeit, S. 78ff. und Hess. Landesordnungen, Bd.1 S.147, 1545 August 20.
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