Lisa de Boor, Tagebucheintragungen 23. - 28. März 1945, geschrieben in Marburg/Lahn, im Hause Rotenberg 8
23., 24. März 1945
Bei unirdisch herrlichem Frühlingswetter vollziehen sich große Entscheidungen. Indes am blauen Himmel Schwärme von Bombern ziehen, wie weißsilberne Vögel blitzend in der Sonne, und wir nah und fern die Bomben krachen hören, haben Amerikaner und Engländer an mehreren Stellen den Rhein überquert, bei Wesel, bei Xanten, bei Remagen und westlich Darmstadt. Massen von Fallschirmtruppen und Lastenseglern landen hinter der Front. Die deutschen Truppen kapitulieren an vielen Abschnitten. Dies scheint nun wirklich die letzte Phase des gewaltigen Ringens zu sein, denn auch die Russen holen aus zu neuen Schlägen in der Slowakei, vor den österreichischen Grenzen und in Pommern und Ostpreußen. Trotz des Wissens um die Schrecken, die vor uns stehen werden in der kommenden Leidenswoche des Christus Jesus, will sich die Brust immerfort weiten, will aufatmen, weil das Ende nahe ist. Vielleicht kommen wir mit dem Leben davon und dürfen dann unsere Dienste anbieten als Helfer zum Aufbau einer menschenwürdigen Zukunft. Mir fällt jetzt ein, daß Monika und ihre Freunde sich „candidats of humanity" nannten, Kandidaten der Menschlichkeit, ein schöner Begriff für ein hohes Ziel.
Wolf ist den ganzen Tag im Garten tätig; es ist wichtig, in den kommenden Monaten von der Erde etwas zur Ernährung zu gewinnen. Wir hatten Post von Werner, er kam mit dem Rest seiner Gemeinde vor dem Russeneinbruch aus Stolp heraus, auf vereisten Landstraßen zu Fuß, alle nur Rucksäcke und einen Handkoffer mit ihrer Habe bei sich tragend.
25. März 1945, Palmsonntag
Mein Herz klopft stürmisch den Ereignissen entgegen. Im Evangelium las ich vom Einzug in Jerusalem. Alles gewinnt in dieser so ungeheuer bewegten Zeit einen neuen Aspekt. „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn. Hosiannah in der Höhe!" Ich möchte meine Seele ganz weit und ganz frei machen für die Ereignisse der Karwoche, für die seelisch-geistigen Christusereignisse und für die neuen Möglichkeiten der äußeren Entwicklung, die aus dem Westen hereinbrechen.
Der Oberkommandierende v. Rundstedt wurde abgesetzt, Kesselring übernimmt das Kommando. - Am Abend dieses Tages müssen wir uns sagen, daß Marburg, wenn die seit dem Morgen über uns kreisenden Flugzeuge ihre Bomben geworfen hätten, ein Trümmerhaufen wäre. So aber wurden nur Bahnanlagen bombardiert, und wir dürfen weiter hoffen.
26. März 1945
Nachts zwischen drei und vier Uhr klingelt es, zwei Verwundete an Krücken stehen vor unserer Haustür, sie kommen von der Front im Westerwald, ein Auto brachte sie hierher; der eine, ein siebenundvierzigjähriger Österreicher, hat nur ein Bein, der andere, ein achtzehnjähriger Thüringer, hat den rechten Fuß ohne Schuh im blutenden Verband. Ich wecke einen Nachbarn, der sie zum Lazarett bringt.
Ein milder Regen treibt alles Grün mächtig heraus, dies ist ein Frühling so zeitig, so schön, wie wir ihn noch nie erlebt haben. Es ist, als wisse die Natur, daß eine Zeit - zwölf Jahre waren es - der Dumpfheit, der Unterdrückung, der inneren Kälte zu Ende geht. Die Karwoche beginnt, an deren Ende das Auferstehungsfest anbricht. Die Nachrichten überstürzen sich. Alle Truppen aus Marburg sind in Richtung Frankfurt in Marsch gesetzt, sie sollen die amerikanischen Panzer mit Panzerschreck und Panzerfaust aufhalten. Darmstadt, Aschaffenburg, Limburg sind erobert. Über dem Abschnitt Niederrhein herrscht Nachrichtensperre. Aber Churchill, der alte Degen, soll in einem Sturmboot den Rhein überquert haben! In den englischen Frontberichten war etwas Seltenes zuhören: schottische Dudelsackspieler, die ein Jubelkonzert am Ostufer des Flusses gaben.
27. März 1945
Zur Illustration: in der Zeitung mehren sich die Anzeigen für englischen Sprachunterricht. Ein anderes Zeichen: ich stehe am Milchwagen und höre, wie zwei Frauen von Bonzen sich unterhalten, und eine jammert die andere an: „Womit haben wir das verdient!" Es ist noch immer zu früh, ihnen die Rechnung vorzulegen, an deren Schluß die Summe steht, über deren Umfang und Höhe sich einmal die Menschen entsetzen werden. - Ich sah an der sich begrünenden Hecke den ersten Zitronenfalter und alles Kindheitsglück regte sich in mir. Am Wilhelmsplatz saß ich auf einer Bank, ununterbrochen stürzte aus Richtung Gießen eine Flut von Wagen, Autos, Fahrrädern, Soldaten und Zivilisten vorbei. Die Auflösungserscheinungen mehren sich.
In der Stadt kribbelte es wie ein Bienenschwarm, der aufgestört ist. Viele Läden sind geschlossen, vor anderen stehen Scharen von Menschen, es wird frisch geschlachtetes Fleisch verkauft. Am Abend kommt P. und wir bedenken gemeinsam die zwölf Jahre, hinter die jetzt ein Schlußpunkt gesetzt werden wird. Radio London gibt Vordringen der Amerikaner über Gießen bekannt, nun kommt es auf uns an. Die ganze Nacht hindurch dröhnt der deutsche Rückzug über die Straßen.
28. März 1945
Der denkwürdigste Tag. Gegen zehn Uhr, als ich im Garten Feldsalat hole, hören wir Kanonendonner aus dem Westen, bereits in der Nähe der Stadt. Als die Pausen zwischen den Einschlägen sich immer mehr verkleinern, sagt Wolf : „Das sind die Panzerspitzen der Amerikaner." Ich laufe rasch in mein Zimmer, setze mich einen Augenblick vor meinen Schreibtisch, Weinen erschüttert mich. Die Wichtigkeit dieser Stunde wird mir ganz bewußt. Der Beschuß dauert etwa zwei Stunden, kommt immer näher heran. Vom oberen Stockwerk aus sehe ich dann, daß amerikanische Panzer bereits durch die Universitätsstraße in die Stadt hereinfahren. Nach einer Weile fasse ich mir ein Herz und laufe mit einem polnischen Arbeiter von der Kohlenhandlung gegenüber zum Barfüßertor hinunter, ich nehme den bereitgehaltenen amerikanischen Wimpel mit, den mir meine Schwester zurückließ. Eine lange Kolonne Rote-Kreuz-Wagen hält dort. Wir sind die ersten Menschen, die weit und breit zu sehen sind, die Sanitäter winken uns zu, wir laufen hinüber und begrüßen sie mit ein paar englischen Worten. Sie geben uns dann eine Unmenge Sachen, die von deutschen Soldaten unterwegs fortgeworfen wurden: Mäntel, Decken, Strümpfe. Wir nehmen sie mit für die polnischen Arbeiter. Inzwischen kommen von allen Seiten französische Kriegsgefangene und italienische und polnische Arbeiter. Ein amerikanischer Reverend macht den Dolmetscher, die Sanitätssoldaten scherzen mit den herankommenden Kindern, zeigen auch Fotos ihrer eigenen Kinder und Frauen.
Inzwischen fahren immer mehr Panzer auch unsern Rotenberg herunter, Soldaten mit schußbereiter Waffe marschieren nebenher. Vor unserm Haus hat ein gewaltiger Koloß haltgemacht, wir können einigen kriegsgefangenen Deutschen, die darauf stehen, zu essen und zu trinken geben. Später kommen lange Züge gefangener deutscher Soldaten vorbei, ganz junge Kerlchen, fast Kinder noch. Welch ein Verbrechen, diese Knaben gegen die bis an die Zähne bewaffneten kräftigen Männer in den Krieg zu schicken!
Um fünf Uhr gehe ich mit Wolf in die Stadt und lese die Maueranschläge. Das Wichtigste: Die NSDAP ist mit allen ihren Gliederungen aufgelöst. Schulen und Universitäten sind geschlossen, aber die Gottesdienste sind erlaubt. So will ich gleich anfangen, einen Raum zum Wiederbeginn der Arbeit der Christengemeinschaft herzurichten. Auf dem Rückweg nachhause treffe ich einen Russen, einen Schuhmacher, mit dem ich oft freundliche Blicke wechselte, wenn ich in die Werkstatt kam, wo er arbeitete, aber ich durfte ihn nicht ansprechen, der Meister war von der Polizei darauf hingewiesen worden. Er kommt nun auf mich zu, sein breites slawisches Gesicht strahlt, er faßt mit beiden Händen meine Hand, schüttelt sie immer wieder: „Nun nicht mehr verboten zu sprechen deutsche Frau und russischer Mann!" Und er verabschiedet sich endlich mit einem: „Do swidanja", „Auf Wiedersehen". Was gäbe ich darum, könnte ich die russischen Mädchen noch einmal sehen, die sich im Winter bei uns wärmten, Pellkartoffeln und Salz aßen und mich Pani Mama, Frau Mutter, nannten.
In der Dämmerung dieses für uns wichtigsten Tages der Geschichte der letzten Jahre trete ich auf den Balkon: groß und rot steht der Frühlingsmond im Osten über dem dunklen Wald. Langsam ist eine Wolke gewichen, die ihn zuerst verdeckte. Dies ist der Frühlings Vollmond, auf den der Ostersonntag mit der Auferstehung folgt. Wir wissen, daß die kommende Zeit Schweres und Schwerstes bringen wird. - Dennoch ist meine Seele an diesem Abend voll Dank für die Himmlischen und es jubelt in mir:
Sursum corda! Aufwärts die Herzen!
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