Friedrich Stampfer über die parlamentarische Situation bis zum Ende der Regierung Brüning im Mai 1932:
Die parlamentarischen Verhältnisse im Reich blieben von den Septemberwahlen des Jahres 1930 bis zum Sturz Brünings durch die Kamarilla am 30. Mai 1932, also einunddreiviertel Jahre lang, stabil. Diese Stabilität, ein unschätzbares Aktivum in so stürmischer Zeit, hätte vielleicht noch lange dauern können, wäre sie nicht durch ein außerparlamentarisches Intrigenspiel zer stört worden. Es gab eine starke parlamentsfeindliche Opposition, bestehend aus Nationalsozialisten, Deutschnationalen und Kommunisten, und trotz alledem eine stärkere Regierungsmehrheit, bestehend aus den übrigen Parteien. Es war - sonderbar genug - eine klare parlamentarische Mehrheit für die Anwendung des Artikels 48. Aber diese Mehrheit hat nicht in einem einzigen wichtigen Fall versagt. Sie lehnte die Einberufung des Reichstags ab, wenn eine Notverordnung erlassen war und die Regierung sich ihrer parlamentarischen Behandlung widersetzte. Sie lehnte im Reichstag die Aufhebung der Notverordnungen ab, und sie lehnte die Mißtrauensanträge ab, die von der Opposition gestellt waren. Sie nahm das Osthilfegesetz an und erteilte der Regierung die Ermächtigung, von sich aus die Zölle zu ändern, d. h. zu erhöhen. Diese Mehrheit siegte am 6. Dezember 1930 mit einem Plus von 38 Stimmen, am 12. Mai - bei der letzten Abstimmung vor Brünings Entlassung - mit einem Plus von 30 Stimmen. Dazwischen lagen zahlreiche andere Abstimmungen ähnlicher Art.
Brüning brauchte, um dieses System zu erhalten, die Sozialdemokratie, der er manche Zugeständnisse im kleinen, besonders auf sozialem Gebiet machen mußte. Die Sozialdemokratie aber brauchte den Anschluß an die bürgerliche Mitte, wenn sie die Rechte von der Macht fernhalten wollte. Es war von beiden Seiten keine Liebesehe, nur eine Vernunftehe im strengsten Sinn des Wortes. Mit dem Herzen war Brüning viel eher als bei den Sozialdemokraten bei den Deutschnationalen, wären sie nur noch so gewesen wie 1925! Die Sozialdemokraten aber hätten hundertmal lieber opponiert als toleriert, nur die Einsicht, daß sie durch ihre Opposition die Entwicklung noch viel weiter nach rechts treiben würde, zwang sie in die Gefolgschaft eines sehr weit rechts stehenden Kanzlers.
Stampfer, Die ersten 14 Jahre der Deutschen Republik, S. 598 f.
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