„Nationalsozialismus und Bürgertum". Aus den Betrachtungen des Historikers Friedrich Meinecke (1862-1954) in der „Kölnischen Zeitung" vom 21.12.1930:
Der Regierung Brüning ist die historische Aufgabe geworden, das, was man neuerdings die konstitutionelle Demokratie nennt, zu verwirklichen. Weil durch das Anwachsen des Rechts- und Linksradikalismus und die Zermürbung der Mittelparteien das rein parlamentarische System bei uns erschüttert ist, gleitet der Schwerpunkt des staatlichen Lebens zwangsläufig auf die Regierung hinüber. Wir nennen diesen heute zunächst nur durch tatsächlichen Verfassungswandel, noch nicht durch Verfassungsänderung sich anbahnenden Primat der Regierung gegenüber dem Parlament konstitutionelle Demokratie, weil das demokratische Prinzip in ihm gesichert ist und auch immer bleiben muß durch den Willen des volksgewählten Reichspräsidenten. Volksmehrheit bedeutet mehr als Parlamentsmehrheit. Wenn die Parlamentsmehrheit durch Mißbrauch und Zerrüttung des Parteiwesens arbeitsunfähig wird, hat der Vertrauensmann der Nation das Recht und die Pflicht, im Sinne der wahren Volksmehrheit aller Vernünftigen, die nicht an Parteischranken gebunden ist und immer noch als vorhanden gelten kann, zu handeln. Daß Hindenburg dies heute tut, das danken wir ihm.
Das ist also der lichte Punkt in unsrer heutigen Lage. Und immer besteht auch noch im Reichstag zwar keine positive,
die Regierung einmütig und geschlossen stützende, aber doch eine negative, das Unheil der Radikalismen abwehrende Mehrheit. Aber es wird an ihr genagt und gezerrt, und von ihren rechten Flügelgruppen her wird sie unterminiert..., so geht... eine suggestive Wirkung der nationalsozialistischen Bewegung auf einen großen Teil der reduzierten Mittelparteien aus. „Es muß doch etwas daran sein", sagt man und nähert sich wohlwollend den wilden Männern, die, so meint man, gar nicht so wild seien, wie sie sich im Augenblick gäben. Es seien doch wertvolle Ideen, Kräfte und Menschen in dieser Bewegung. Gewiß, dem ist so. Aber tritt das eigentlich Wertvolle an ihr, das starke nationale Wollen, das leidenschaftliche Empfinden unserer politischen Unfreiheit und die ethische Aufbäumung gegen Großstadtschmutz, hier nicht in einer demagogischen Verzerrungund Vergröberung auf, die es realpolitisch nicht nur unbrauchbar, sondern schädlich macht? Man sollte sie, sagt man darauf, nur hineinnehmen in die Ämter und die Regierung, damit sie hier erzogen würden und sich mauserten... Man lacht über ihre wirtschaftlichen Forderungen, schilt auch in den Kreisen der obern Zehntausend gesittet über ihren Straßenradau - und doch, merkwürdig, geht in diesen selben Reihen das Geraune über die Nützlichkeit und dermaleinstige Verwendbarkeit des Nationalsozialismus sachte weiter. Was steckt eigentlich dahinter?..., was die stille Gunst mancher mächtiger Wirtschaftler für diese so wirtschaftswidrig sich gebärdende Bewegung erklärt. Sie sehen in ihr den Sturmbock gegen die verhaßte Sozialdemokratie. Zuweilen scheint es so, als sei der einzige politische Gedanke, von dem sie besessen sind, der, die unbequemen Gewerkschaften zu zerbrechen... Die Sozialdemokratie ist heute in dieselbe staaterhaltende Position wieder eingerückt, in der sie einst um die Wende 1918/19 den Bolschewismus von Deutschland hat abwehren helfen. Nur mit dem Unterschied, daß sie damals nur gegen eine Front, diesmal gegen zwei Fronten, gegen Kommunismus und Nationalsozialismus, zu kämpfen hat - genau gesehen, gegen drei Fronten, nämlich auch noch gegen jenen heimlichen oder offenen Haß gewisser bürgerlich führender Kreise. Wir stehen nicht an, einen solchen Haß als das Dümmste und Kurzsichtigste zu bezeichnen, was sich das deutsche Bürgertum in seiner jetzigen weltgeschichtlichen Gefährdung leisten kann.
Friedrich Meinecke, Politische Schriften und Reden, hg. von Georg Kotowski, Darmstadt 1958, S. 442f
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