Brüning über die letzten Ziele seiner Innen- und Außenpolitik. Aus einer Niederschrift Brünings über eine Besprechung mit Adolf Hitler und der NSDAP-Führung am 6.10.1930:
... die Unterhaltung mit Hitler [wurde] so geführt, daß ihm über die Lage und die Absichten ohne jede weitere sonst im parlamentarischen Leben übliche taktische Zurückhaltung reiner Wein eingeschenkt wurde. Nach einigen einleitenden kurzen Gesprächen begann ich mit der Darlegung der Lage und der Absichten der Regierung für die Zukunft. Die Krise würde nach unserer Schätzung etwa vier bis fünf Jahre dauern, frühestens im Sommer 1932 sei die erste Besserung möglich... Eine Wiedererreichung des Lebensstandards von 1927/28 sei auch nach Streichung der Reparationen in den nächsten Jahren nicht möglich. Diese Streichung der Reparationen herbeizuführen, unter gleichzeitiger Inangriffnahme der Abrüstungsfrage, würde das erste Streben der Außenpolitik der Regierung sein. Mit beiden Fragen hoffe man im Laufe von anderthalb bis zwei Jahren den ganzen Versailler Vertrag, ohne darüber zu reden, ins Wanken zu bringen.
Der erste Ansatz dazu sei der schwierigste. Man müsse Finanzmaßnahmen treffen, die zunächst eine Atempause für ein halbes Jahr gäben. Dann würden weitere Einschränkungen der Ausgaben auf allen Gebieten notwendig, verbunden mit einer Senkung der Preise und Löhne, um, gestützt auf eine bis dahin zu verwirklichende Autarkie auf allen landwirtschaftlichen Gebieten mit Ausnahme der Fettwirtschaft, Deutschland als erstes Land so zu rüsten, daß es jeden Druck von außen her aushalten könne und dazu noch in der Lage sein würde, seinerseits jederzeit die Weltkrise zu benutzen, um durch sie einen Druck auf alle übrigen Mächte auszuüben...
Die Regierung sei fest entschlossen, den dargelegten Weg bis zum Äußersten zu gehen. Sie könne darüber vor der Öffentlichkeit keine Erklärung abgeben. Allein die Idee, daß ein halbes Jahr nach Inkrafttreten des Young-Planes die Offensive mit dem Ziel, die gesamten Reparationen zu streichen, beginnen würde, wäre ein Schock für die Welt und würde von ihr mit der sofortigen Herausziehung des kurzfristigen Kapitals beantwortet, was eine Kapitulation Deutschlands zwei Monate später zur Folge haben müßte. Fast alle Gläubiger Deutschlands seien sich noch nicht klar darüber, wie verzweifelt die Lage im Augenblick schon sei. Um die Welt über diese Lage hinwegzutäuschen, brauchte ich den 125-Millionen-Dollarkredit, der mir von Lee Higginson2 ohne jede politische Bedingung, nur gegen verstärkte Schuldentilgung, angeboten war. Diesen Kredit müßten wir um jeden Preis haben, um nicht schon Mitte Dezember einen Zusammenbruch zu erleben. Er würde zusammen mit den sonstigen Maßnahmen der Regierung die Chance bieten, im nächsten Jahr die Reparationen ausschließlich durch unsern Ausfuhrüberschuß zu bezahlen und dadurch das Gefüge des gesamten Weltmarkts auseinanderzubrechen. Ich schätze die Zeit, die notwendig sei, um auf diese Weise den Ruf nach Streichung der Reparationen in der Welt zu wecken, auf etwa 12 bis 14 Monate.
Das sei die erste Phase der Politik, für die eine schärfere außenpolitische Opposition seitens der NSDAP das zweckmäßigste wäre. Eine Verständigung im einzelnen über die Formen der Opposition wäre natürlich eine Voraussetzung für ein späteres Zusammengehen. Ich hoffe, in der zweiten Phase zusammen mit der Rechten an die Verfassungsreform herangehen zu können, die nach meinen persönlichen Wünschen in einer monarchischen Restauration enden müsse, ohne daß es möglich sein würde, schon wieder einen Kaiser zu proklamieren, solange nicht im Hause Hohenzollern selbst eine Einigung über die ... möglichen Kandidaten erfolgt sei. Unter der Voraussetzung, daß er, Hitler, mir sein Wort gebe, sich mit mir in jeder Phase über die Form der Opposition zu verständigen, würde ich dafür sorgen, daß seiner Presse abseits jeder persönlichen Verunglimpfung volle Freiheit gegeben würde, auch zur schärfsten Kritik an der Außenpolitik und an meiner Person...
Wenn Hitler bereit sei, auf der Grundlage dieser Außenpolitik in loyaler Weise, erst versteckt und dann offen, mitzuarbeiten, so würde das deutsche Volk in zwei bis drei Jahren die Fesseln des Versailler Vertrages los sein. Ich hoffe, daß ich an ihn als alten Frontsoldaten nicht vergeblich appelliere, genauso wie es mir und meinen Freunden als alten Frontkämpfern gleichgültig sei, ob der Enderfolg mit unseren Namen verknüpft würde.
Hitler antwortete in einer einstündigen Rede...
Er ging mit keinem Wort auf die grundlegenden Fragen jeder künftigen Politik ein, namentlich nicht auf den finanziellen Mehrjahresplan, den er anscheinend nicht verstand. Immer häufiger kam das Wort „vernichten", zuerst gegen die SPD gerichtet, dann gegen die Reaktion und endlich gegen Frankreich als der Erbfeind und gegen Rußland als den Hort des Bolschewismus. Er mache sich stark, wenn er an der Regierung sei, gemeinsam mit England, dann mit Italien und Amerika diese Feinde in kurzer Zeit zu Boden zu werfen. Voraussetzung dafür aber sei zunächst die Vernichtung der KPD, der SPD und der Reaktion.
Er sei bereit, für den Beginn dieses Kampfes mit drei Ministern in das Kabinett einzutreten, ohne sich aber auf Maßnahmen der Regierung festlegen zu können...
Wir sahen, daß mein Angebot auf den ersten Anhieb gescheitert war. Trotzdem durften die Fäden, mit Rücksicht auf das nunmehr beginnende Wagnis, nicht abreißen... Unter Ignorierung aller von ihm ausgesprochenen Unmöglichkeiten erklärte ich mich bereit, dafür zu sorgen, daß überall in den Länderparlamenten schon in dieser ersten Anlaufzeit, wo es zahlenmäßig möglich sein, NSDAP und Zentrum zusammen eine Regierung bilden konnten, um so die Brücken für die zweite Phase zu bilden. Das machte sichtlich mehr Eindruck auf ihn als alles vorher Gesagte.
Mir wurde klar, daß sein Grundsatz: „Erst Macht, dann Politik" für ihn stets maßgebend sein würde. Nach drei Stunden wurde ein Kommunique vereinbart, und wir schieden mit der ausdrücklichen Zusage Hitlers, über die außenpolitischen Pläne der Regierung stärkstes Stillschweigen zu wahren.
Brüning, Memoiren, S. 192-96
1 Die Besprechung fand in der Berliner Privatwohnung von ReichsministerTreviranusstatt.Von nationalsozialistischer Seite nahmen neben Hitler der Reichsorganisationsleiter Gregor Strasser (1892-1934) sowie Wilhelm Frick (1877-1946), Reichsinnenminister1933-1943,teil.
2 s. Quelle 67, Anm. 1
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