Notverordnung oder reguläres Haushaltsgesetz? Am 16. 7.1930 erließ der Reichspräsident die ersten Notverordnungen nach Artikel 48 zur Deckung des Reichshaushalts.
Der Abgeordnete Landsberg (SPD) in der Reichstagsdebatte vom 18. 7.1930:
Wer sagt denn der Reichsregierung, daß eine Sanierung der Finanzen des Reichs, die wir alle wollen, anders als auf ihrem Wege, nicht möglich ist?
... Sie wissen, daß in der Politik nichts so verhängnisvoll ist, wie der Präzedenzfall. Und was für einen Präzedenzfall haben Sie ihnen, haben Sie Desperados mit diesen beiden Verordnungen1 gegeben! Wenn diese beiden Verordnungen gültig sind, dann kann man mit dem Artikel 48 der Reichsverfassung - ich spreche es unumwunden aus - einfach alles machen. Dann kann man im Deutschen Reiche das Unterste zu Oberst kehren. Dann haben wir gegen die Zeit des Obrigkeitsstaats, der wenigstens zur Voraussetzung diktatorischer Maßnahmen die Verkündung des Kriegszustandes machte, keinen Fortschritt, sondern einen Rückschritt gemacht, obwohl wir in Weimar selbstverständlich das gerade Gegenteil gewollt haben.
Sie haben, sage ich, einen wunderbaren Präzedenzfall geliefert für Menschen mit allerlei verstiegenen Plänen. Ist das wirklich für einen Reichskanzler, der auf dem Boden der Verfassung steht, eine erträgliche Lage, wenn man von ihm getroffene Maßnahmen annimmt, um sie für gegen die Verfassung verstoßende Unternehmungen zu verwenden? Ich weiß, daß niemand, der zu einem Staatsstreich geneigt ist, über Gesetzes-, über Verfassungsbestimmungen stolpern wird... Für die physische und moralische Widerstandskraft des Volks und für ihre Stärkung kommt es aber darauf an, daß im gesamten Volke nicht der leiseste Zweifel an der Unrechtmäßigkeit des Vorgehens des Staatsstreichlers, an dem Vorliegen eines Putsches bestehen kann, und deshalb schwächt jeder die Grundlagen der Verfassung, der durch Verordnungen von der Art der vorliegenden, Männern, die später kommen und die sich auf den uns beschäftigenden Präzedenzfall beziehen, ihr Werk erleichtern.
Das ist das politische Hauptdenken, das meine politischen Freunde gegen diese Verordnungen haben. Und... wenn die Männer in der Regierung, deren Liebe zu der Verfassung sehr jungen Datums ist, und wenn die Deutsche Volkspartei derartige Maßnahmen deckt, die die Verfassung von Weimar abgelehnt hat, so ist das noch eher zu begreifen. Aber bei Ihnen, meine Damen und Herren vom Zentrum und von der Deutschen Demokratischen Partei verstehe ich den Freibrief, den Sie dem Herrn Reichskanzler für sein Vorgehen erteilt haben, nicht. Wir haben in Weimar zusammen diese Verfassung gemacht in einer Zeit, die schwerer gewesen ist als die heutige, in einer Zeit, in der Ordnung und Sicherheit sehr viel mehr bedroht gewesen sind als heute, und wir haben gleichwohl in die Hände des Volkes vertrauensvoll die volle Staatsgewalt gelegt, weil wir wußten, daß wir uns auf das Volk verlassen konnten, und dieses Vertrauen hat uns nicht getäuscht... Nun frage ich Sie, meine Herren vom Zentrum und von den Demokraten: Hätten Sie es damals, als wir die Verfassung schufen, im entferntesten für möglich gehalten, daß der Artikel 48 einmal so angewendet werden könnte, wie es hier geschehen ist. Wenn wir an die Möglichkeit gedacht hätten, wir hätten da schon den Riegel geschaffen, den wir jetzt vorschieben müssen in Gestalt des längst fälligen Ausführungsgesetzes zum Artikel 48. Meiner Meinung nach hat sich die Reichsregierung der denkbar schwersten Verletzung der Verfassung schuldig gemacht... Wir beantragen die Aufhebung dieser beiden Verordnungen, und wir legen Wert darauf, daß abgestimmt wird über das Mißtrauensvotum, das wir beim Reichstage gegen die Reichsregierung eingebracht haben. Diese Reichsregierung hat Möglichkeiten der Verständigung nach links nicht nur nicht ausgenutzt, sondern abgelehnt, um ausschließlich nach rechts zu verhandeln und zu einer Verständigung mit der Rechten zu kommen.
Nach: Verhandlungen des Reichstags, Bd. 428 (Sten. Ber.), S. 6501 ff., zit. nach: Ursachen und Folgen, Bd. 8, S. 43-46
1 Die 1. Notverordnung vom 16. 7.1930 entsprach im wesentlichen dem Kompromiß der Regierungsparteien über die Reichshilfe zur Deckung des Haushaltes. In der 2. Notverordnung vom gleichen Tage wurden die Befugnisse der Gemeinden zur Erhebung einer Getränkesteuer geregelt.
Der sozialdemokratische Antrag auf Aufhebung der Notverordnung nach Artikel 48, Absatz 3 wurde am 18. 7.1930 mit 236 gegen 221 Stimmen angenommen. Der Reichspräsident löste daraufhin nach Art. 25 der Reichsverfassung den Reichstag auf.
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