Der nach dem Sturz Hermann Müllers am 28.3.1930 zum Reichskanzler berufene Heinrich Brüning in seinen Memoiren über eine Unterredung mit dem zum Beraterstab des Reichspräsidenten gehörenden Reichswehrgeneral von Schleicher, Frühjahr 1929:
Schleicher:... Der Reichspräsident sehe die Gefahr, daß die ganze Innen- und Außenpolitik im Sumpfe verlaufe. Er sei entschlossen, zusammen mit der Reichswehr und den jüngeren Kräften im Parlament die Dinge vor seinem Tode in Ordnung zu bringen. Ich fragte, ob der Reichspräsident das mit oder ohne Parlament machen wolle. Darauf Schleicher: Der Reichspräsident würde nicht die Verfassung verletzen, aber er würde das Parlament im gegebenen Augenblick für eine Zeit nach Hause schicken und in dieser Zeit mit Hilfe des Artikels 48 die Sache in Ordnung bringen... „Denken Sie nicht, daß wir die Monarchie im Handumdrehen wieder einführen wollen. Selbstverständlich muß man sich überlegen, was man tut beim Tode des Feldmarschalls." Meine Antwort: „Mich stört die Frage der Wiedereinführung der Monarchie nicht, aber die Dinge, die gemacht werden müssen in bezug auf die Ordnung der Finanzwirtschafts- und Sozialpolitik werden so unpopulär sein, daß man die Monarchie damit nicht belasten darf. Ich halte es nach den Erfahrungen der Etatsverabschiedung für möglich, die notwendigen Reformen auf diesen Gebieten schrittweise mit der jetzigen Mehrheit zu machen, bis das Rheinland1 geräumt ist. Der patriotische Schwung, der durch die Räumungsfeiern auch über die Sozialdemokratie kommen wird, schafft vielleicht die Möglichkeit, diese so weit zu bringen, daß sie zum mindesten eine Situation wie in Ungarn2 toleriert." Schleicher: „Phantastisch. Das ist ganz meine Idee. Hermann Müller ist zwar krank, aber ein fabelhaft anständiger und patriotischer Mann." Brüning: „Dann stimmen wir darin überein, daß die Monarchie unter keinen Umständen im Kampfe gegen die Masse der geschulten Arbeiterschaft eingeführt werden darf. Die Monarchie muß am Ende der Reformen stehen. Der Artikel 48 ist zur Änderung oder Umbiegung der Verfassung nicht zu gebrauchen."
Schleicher: „Das geht zu weit. Der Feldmarschall will nicht sterben, ohne diese Frage gelöst zu haben. Wir haben im Reichswehrministerium Gutachten von Kronjuristen gesammelt, die beweisen, daß man in Fortbildung der Praxis den Artikel 48 auch zur Verfassungsänderung gebrauchen kann." Brüning: „Ich kann mit Ihnen in diesem Punkt nicht übereinstimmen, aber schicken Sie mir diese Gutachten, und ich werde sie prüfen. Ich halte die Anwendung des Artikels 48 auf allen Gebieten des Wirtschafts- und Soziallebens für möglich, aber ich halte es für ausgeschlossen, daß man für eine längere Frist, selbst in diesen Dingen, ausschließlich mit dem Artikel 48 regieren kann."
Ich fürchtete, die Wirtschaftskrise würde gewaltige Ausmaße annehmen. Mit dem Artikel 48 konnte man die Dinge höchstens ein Jahr lang meistern. Dann war der Artikel 48 eine stumpfe Waffe geworden. Daher bat ich ihn, seinen Einfluß geltend zu machen, daß die Reformen zunächst mit dem Parlament gemacht würden. Erst wenn das Parlament sich daran gewöhnt habe, wie es jetzt zum ersten Mal im neuen Etat geschehen sei, die Ausgaben herabzusetzen, statt sie zu erhöhen, sei die Zeit reif, die letzte größte Reform mit Hilfe des Artikels 48 auf einen Schlag zu machen.
Heinrich Brüning, Memoiren, Stuttgart 1970, S. 145 ff.
1 zur antiparlamentarischen Wende unmittelbar nach der Räumung des Rheinlands am 30. 6. 1930 s. Quelle 62 u. Abb. 22
2 Anspielung auf die Machtstrukturen des autoritären Regimes des Admiral Nikolaus von Horthy in Ungarn (1920-1944). „Reichsverweser" Horthy sicherte, nicht zuletzt durch eine Änderung des Wahlrechts, der konservativ-liberalen Regierungspartei seit Anfang der 20er Jahre eine Dauermehrheit gegen die ungarischen Sozialdemokraten und andere kleinere Oppositionsgruppierungen.
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