Dokument 22: ERHEBUNG DER FAMILIE VON LIEVEN IN DEN GRAFENSTAND DES RUSSISCHEN KAISERREICHES 1799 September 27.
Depositum Kurländische Ritterschaft VI, 3 v. Lieven Nr. 5.
ERHEBUNG DER FAMILIE LIEVEN IN DEN GRAFENSTAND DES RUSSISCHEN KAISERREICHES – 1799 September 27 | |
| Best. 701, Kurländische Ritterschaft VI,3. v. Lieven, Nr. 5. |
Johannes Enno Korn, Adler und Doppeladler. Ein Zeichen im Wandel der Geschichte, Diss. Göttingen 1969, S. 79 f., Reinhold Kaim, Russische Numismatik, Braunschweig 21968. Alla Sergeevna Mel'nikova, Russkie monety ot Ivanan Groznogo do Petra Pervogo, Moskau 1989 Aleksandr Borisovic Lakier, Russkaja geral'dika, N. A. Soboleva, Hrsg., Moskau 21990 Im Staatsarchiv Marburg liegen als Depositum auch Akten und Urkunden der Baltischen Ritterschaften. Der Bestand Kurländische Ritterschaft ist nur ein kleiner Teil des alten Kurländischen Ritterschaftsarchives und enthält vor allem Material über einzelne adlige Familien. Auch auf Fürsprache des damaligen Generalgouverneurs von Kanada, des englische Feldmarschalls Lord Harold Alexander of Tunis, ehemals Chef der Baltischen Landeswehr, hatte der Kommandierende der englischen Armee in Deutschland gestattet, aus dem kriegsbedingten Zwischenlager in Grasleben bzw. Goslar Familienpapiere zu entnehmen. Der erheblich größere Rest des Kurländischen Ritterschaftsarchives liegt heute im Staatsarchiv Riga. Einzelmitglieder anderer baltischer Ritterschaften haben ihre über Aussiedlung und Krieg geretteten oder nach dem Krieg entstandenen Familienpapiere ebenfalls im Staatsarchiv Marburg deponiert.
Die Urkunde über die Erhebung der Familie Lieven in den Grafenstand des russischen Reiches gehört zu den prächtigsten Stücken in den baltischen ritterschaftlichen Beständen. Aufgestickt ist der russische gekrönte Reichsadler mit dem Georgsschild auf der Brust, Szepter und Reichsapfel mit darüber schwebender Krone. Das entspricht – vom Ordensband abgesehen – dem sog. kleinen Wappen wie es seit Ende des 18. Jahrhunderts üblich ist oder der Rückseite einiger Münzen seit der Zeit Peters d. Gr. Der Doppeladler wird unter dem Großfürsten Iwan III. Teil der russischen Reichssymbolik. Früher ist man irrtümlich davon ausgegangen, die Annahme des Doppeladlers ab 1497 stünde im Zusammenhang mit Iwans III. (1462-1605) Heirat mit Sofija (Zoe Palaiologos), der Nichte des letzten byzantinischen Kaisers, bedeute also ein Anmelden der Ansprüche auf das byzantinische Erbe, die Führungsrolle unter den Griechisch-Orthodoxen, stünde also im Zusammenhang mit dem Entstehen des Mythos von Moskau, dem dritten Rom. Man geht heute eher davon aus, daß der Doppeladler im Staatssiegel eingeführt wurde, um im diplomatischen Verkehr mit dem ebenfalls einen Doppeladler führenden deutschen Kaiser Gleichrangigkeit anzumelden. Siegel und Wappen werden in Rußland generell erst seit dieser Zeit, vom Adel speziell im 17. Jahrhundert, von Städten und Provinzen im 18. Jahrhundert, angenommen, und deren Verwendung ist ein Element des Prozesses der Verwestlichung Rußlands.
Seit Aleksej Michajlovič, dem Vater Peters d. Gr. symbolisieren die drei Kronen offiziell die drei unterworfenen Zarenreiche Kazan', Astrachan' und Sibirien. Die zentrale dritte Krone meldete, deutlich als Königskrone erkennbar, jedoch zunächst nichts anderes an, als den Anspruch des ersten falschen Dmitrij auf Anerkennung des Titels Imperator für ihn, den vermeintlichen Sohn Iwans IV., der 1547 als erster nach einer eigenen Krönungszeremonie den Titel Car' angenommen hatte.
Der Georg als Schutzpatron der Russen taucht – seitenverkehrt nach russischer Tradition, nach westlichen Vorstellungen heraldisch korrekt – aufgelegt auf dem gekrönten Doppeladler unter der erwähnten dritten Krone zuerst auf dem Staatssiegel und auf Münzen auf, die der aus Litauen kommende erste falsche Demetrius mit seinem Bildnis auf der Vorderseite der Münze – auch dies war neu – deutlich unter westlichem Einfluß hat prägen lassen. Rein russische Vorgängermünzen seit der Münzreform von 1535 der Regentin Elena Glinskaja, der Mutter Iwans IV., des Schrecklichen, zeigen einen Reiter mit Lanze, der noch als Zar verstanden werden wollte: „Und unter dem Großfürsten Vasilij Ivanovič (Vasilij III.) war ein Zeichen auf dem Geld, der Großfürst zu Pferde mit einem Schwert in der Hand. Und der Großfürst Iwan Vasil'evič machte ein (neues) Zeichen auf den Münzen, den Großfürsten mit einer Lanze in der Hand auf dem Pferd, und deshalb nannten sie sich Lanzengeld (dengi kopejnye)“ berichtet die Sofien-Chronik aus Novogorod. Der Hl. Georg war Schutzpatron Moskaus seit der Zeit des Dmitrij Donskoj und er verschmolz allmählich mit diesem Reiter, sicher auch deshalb, weil Münzen als Orden für militärische Großtaten verwendet wurden. Den Grafentitel verleiht Paul I. hier, weil die Staatsdame Charlotte (Šarlotta Karlovna) Lieven sich seit 1785 bei der Erziehung seiner Töchter besondere Verdienste erworben habe, und zwar für deren legitime Nachkommen in männlicher und weiblicher Linie. Der Titel sei nicht nur im russischen Reich, sondern auch im Ausland gegenüber Standesgenossen ein voll gültiger Rang. Hiermit stellt der Zar bei den neuen, europäischen Adelstiteln (das alte Rußland vor Peter d. Gr. kannte nur knjaz' – Fürst) den deutlichen Anspruch auf Unabhängigkeit Rußlands gegenüber dem deutschen Kaiser. Noch 1794 hat Kaiser Franz II. P. V. Zavadovskij den Grafentitel verliehen. Seit 1706, der Verleihung des Grafentitels durch Peter d. Gr. an Boris Petrovic Šeremetev war es üblich gewesen, beim Kaiser um die Anerkennung des Ranges nachzusuchen. Allmählich hörte dies auf, Voraussetzung für eine rechtskräftige Titelführung zu sein.
I.A.
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