„Neue Wege in der Sozialpolitik": Ausführungen von Heinrich Brauns (1868 - 1939), Reichsarbeitsminister Juni 1920 bis Juni 1928 (Z), vom Oktober 1928:
Die stärkere, vielfach ausschlaggebende Beteiligung der Arbeitnehmer und der ihnen nahestehenden Kreise an der Staatsregierung und das Unterliegen der radikalen Elemente in den Wirren der Revolution erforderten gebieterisch eine weitgehende sozialpolitische Umstellung, die in ihrem Wesen sofort erkennbar werden mußte, wenngleich ihre Durchführung im einzelnen viele Jahre erforderte. Auch die gewaltige Not der Nachkriegszeit zwang zu sozialem Schaffen und steigerte die soziale Verantwortung des Reiches...
Im Gegensatz zu der Sozialpolitik vor dem Kriege ist die Sozialpolitik des letzten Jahrzehnts zum Kern der sozialen Frage vorgedrungen. Gewiß war auch die Fürsorge für die arbeitenden und nicht mehr arbeitsfähigen Proletarier eine wichtige Aufgabe der Sozialpolitik. Was aber eigentlich den Proletarier ausmachte, war wirtschaftlich gesehen doch die Unsicherheit seiner Existenz und politisch gesehen seine mindere Rechtsstellung in Staat und Gesellschaft, sowohl als Einzelperson wie als Stand, ein Zustand, der sich im Arbeitsverhältnis, in der ganzen Lebenshaltung der Arbeiter, im gesellschaftlichen Leben und in der Staatsordnung und Staatsverwaltung tagtäglich übel bemerkbar machte...
Es lag nahe, daß manche in den Tagen der Revolution die Lösung der Probleme zuvörderst im Sozialismus suchten... Aber ganz abgesehen von der grundsätzlichen Einstellung zu der Vergesellschaftung der Produktionsmittel mußte man bald einsehen, daß die Zeiten dafür wenig geeignet waren... Es blieb demnach nichts anderes übrig, als den Arbeitnehmern eine bessere Rechtslage und eine größere Sicherheit ihrer Existenz auf dem Boden der kapitalistischen Ordnung zu verschaffen. Damit war der sozialpolitischen Entwicklung der Nachkriegszeit der Weg gewiesen...
So steht heute das Gebäude der deutschen Sozialpolitik wieder groß und mächtig da. Es ist geschaffen worden in Zeiten wirtschaftlicher Not und Bedrängnis. Es mußte geschaffen werden, weil ohne dasselbe der Wiederaufstieg des deutschen Volkes und der Wiederaufbau des durch Krieg und Inflation Zerstörten unmöglich gewesen wäre. Das Geschaffene ist also eine wahre und große nationale Tat.
Deutsche Sozialpolitik 1918-1928. Erinnerungsschrift des Reichsarbeitsministeriums, Berlin 1929, S.1-11
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