„Wirtschaftsdemokratie". Auszug aus einer Programmatischen Denkschrift, herausgegeben im Auftrag des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) von Fritz Naphtali, 1928:
Seitdem die politische Vertretung der Arbeiterschaft in vielen Fällen, obwohl in der Minorität, in den Parlamenten mitentscheidend wirkt und manchmal das Zünglein an der Waage bildet, und die Arbeiterparteien in den verschiedenen europäischen wie auch überseeischen Ländern entweder eigene Regierungen gestellt haben oder mit den anderen Parteien zusammen an den Regierungen beteiligt waren, während andererseits die Gewerkschaften in vielen Ländern ganz unbestritten der uneingeschränkten Willkür der Unternehmer Paroli geboten haben, wird es zur gebieterischen Notwendigkeit, daß die Arbeiterschaft alle ihre politischen und wirtschaftlichen Machtmittel mit möglichst großem positivem Effekt zur Neugestaltung der Gesellschaft einsetzt. Dazu gehört, daß alle einzelnen Anstrengungen und täglichen Kämpfe durch den einheitlichen Willen und alle Teilforderungen durch einen Grundgedanken zusammengefaßt werden. Aus diesem Bedürfnis entsteht nun das Programm der Wirtschaftsdemokratie: durch Demokratisierung der Wirtschaft zum Sozialismus!
Kurz zusammengefaßt darf man sagen, daß es zwei Wege sind, die in der Forderung der Wirtschaftsdemokratie sich kreuzen: der eine geht aus von der Kritik der Unzulänglichkeit der politischen Demokratie, der andere von der Kritik der wirtschaftlichen Autokratie...
Die Kritik der politischen Demokratie stellt fest, daß die politische Demokratie allein keineswegs eine vollendete Demokratie ist und keine endgültige Befreiung der arbeitenden Massen bedeutet, daß sie von sich aus nicht einmal die schlimmsten Formen der Ausbeutung beseitigt. Diese Kritikbedeutet aber alles andere als eine Verneinung der politischen Demokratie: im Gegenteil, für jede Entwicklung in der Richtung zur Wirtschaftsdemokratie ist, wie gesagt, die politische Demokratie notwendiger Ausgangspunkt und unerläßliche Voraussetzung. Es liegt auf der Hand, daß zum Beispiel die Beeinflussung der Wirtschaft durch den Obrigkeitsstaat nichts mit der Wirtschaftsdemokratie zu tun hat. Andererseits bleiben die formale Gleichberechtigung aller Bürger in der politischen Demokratie und die sogenannte „Gleichheit der Chance" praktisch so lange nicht verwirklicht, als es auf dem Gebiete der Wirtschaft noch Herrschende und Beherrschte gibt, und die Möglichkeiten wegen der Vermögensverteilung von vornherein außerordentlich ungleich sind. Wirtschaftsdemokratie bedeutet also den Ausbau der politischen Demokratie durch die Demokratisierung der wirtschaftlichen Beziehungen...
Das Wesen der Wirtschaftsdemokratie ist daher erst erfüllt, wenn die Verfügung über die Produktionsmittel nicht mehr Einzelnen zu Privateigentum für private Zwecke zusteht, sondern einem Gemeinwesen der Wirtschaft, das einen wirtschaftlichen Gemeinwillen verkörpert, in dem nicht mehr der private Nutzen Einzelner, sondern der Gemeinnutzen bestimmend ist.
Wirtschaftsdemokratie. Ihr Wesen, Weg und Ziel, Berlin 1928, hier zit. nach: 4. Aufl. Köln/Frankfurt a. M. 1977, S. 28 ff
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