Die Rede des Großindustriellen Paul Silverberg vor dem Reichsverband der Deutschen Industrie in Dresden am 4. September 1926 in Dresden (Dokument 45) wurde in der Öffentlichkeit als sensationell empfunden, und sie löste eine heftige Kontroverse innerhalb der Industrie aus.
Zur grundsätzlichen Bedeutung der Silverberg-Rede und ihrem wirtschaftlichen und politischen Hintergrund äußerte sich der führende SPD-Politiker Rudolf Hilferding im Oktober 1926:
Dreierlei enthält dieses Pronunziamento der deutschen Industriellen: die Billigung der auswärtigen Politik, die nachdrückliche Anerkennung der Republik und die Aufforderung an die Sozialdemokratie zum Eintritt in die Regierung. Zur Beurteilung der Bedeutung und des Gewichts der Kundgebung wird man wieder von der ökonomischen Analyse ausgehen müssen. Seitdem Bismarck 1878 durch gleichzeitige Einführung der Getreide- und der Eisenzölle die neue Handelspolitik inauguriert hatte, war die deutsche Wirtschaftspolitik und von da aus immer mehr auch die Gesamtpolitik durch das Bündnis der Schwerindustrie mit dem Großgrundbesitz bestimmt worden. Zum erstenmal seit fast
50 Jahren erscheinen diese herrschenden Mächte, die von 1918 an die Gegenrevolution organisiert und geführt haben, uneins und im Widerstreit gegeneinander. Sind es vorübergehende Differenzen oder wirklich tiefere, länger dauernde Gegensätze?
Die Struktur der deutschen Industrie hat schon durch den Friedensvertrag eine bedeutsame Änderung erlitten. Der Verlust Elsaß-Lothringens und Oberschlesiens, die zeitweilige Abtrennung des Saargebiets haben das Gewicht der Schwerindustrie vermindert. Die Wirtschaftskrise (und vorher die Ruhrbesetzung) hat Kohle und Eisen am schwersten betroffen. Der Zusammenbruch der Konzerne hat gerade hier das Verhältnis zum Staate völlig umgekehrt. Die sich während der Inflation als Herren des Staates gefühlt und gebärdet hatten, wurden die Bittsteller um Sanierungskredite. Die wirtschaftliche und politische Autorität, die sie wie in allen anderen, so namentlich in den Kreisen der Industrie selbst geübt hatten, war dahin. Mit Stinnes, der im Reichsverband noch unbestrittene Autorität war, sank jene Epoche der Nachkriegszeit ins Grab, in der die Schwerindustrie noch einmal, und vielleicht zeitweilig am unumschränktesten, politische Herrschaft geübt hat.
... In derselben Zeit, in der die Rohstoffindustrie am schwersten litt, befestigte z. B. die deutsche Elektrizitätsindustrie durch technische Erneuerung und finanzielle Konsolidierung ihre Stellung; vor allem aber eroberte sich die chemische Industrie die überragende Position, die sie heute vor allen Industrien einnimmt. Sie ist mit ihrem Kapital von 1,1 Milliarden Mark das größte deutsche und eines der größten Unternehmen der Welt...
Das Entscheidende aber ist die Änderung der weltpolitischen Stellung der deutschen Industrie. Vor dem Kriege war die Schwerindustrie, immer im Bunde mit dem Großgrundbesitz, der die leitenden Stellen in Armee und Verwaltung besetzte, Trägerin des aggressiven deutschen Imperialismus. Die Niederlage hat Deutschlands militärische Kraft gebrochen, aber Deutschland ist ein ökonomisches Machtzentrum erster Ordnung geblieben. Deshalb muß der Expansionsdrang des deutschen Kapitalismus andere Formen suchen und er findet sie in den internationalen kapitalistischen Interessengemeinschaften aller Art...
In derselben Richtung entwickelte sich die Bankpolitik, insbesondere seitdem im letzten Stadium der Inflation der Verlust des mobilen Kapitals manifest und es klar wurde, daß Deutschland auf internationale Kredite angewiesen war. So wurde der Reichsverband zum Befürworter des Dawesplanes, zum Förderer der Locarno- und Völkerbundspolitik1; zur Stütze Stresemanns... Der Reichsverband will die Fortsetzung einer verständigen Außenpolitik der Verständigung, er will eine ungestörte Entwicklung im Innern und deshalb keinen Kampf um die Staatsform, er erkennt die Änderung der sozialen Machtverhältnisse an. Die Utopie..., Gewerkschaften und Sozialdemokratie zu vernichten, ist erledigt. Nur das Kompromiß erscheint verwirklichbar. Der deutsche Unternehmer hat sich zu der Einsicht durchgerungen, die der englische schon lange vor dem Kriege erreicht hat...
1Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund am 10. 9. 1926, s. Kap. 11.2, Quelle 31
Politische Probleme, in: Die Gesellschaft. Internationale Revue für Sozialismus und Politik Nr. 10, IIL Jg., Berlin Okt. 1926, S. 289-294
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