Günther Dehn über die Lebensverhältnisse in einem Berliner Arbeiterviertel im Jahr 1929
Der im Zentrum stark bürgerliche Stadtbezirk, in dem viele Beamte und leidlich wohlsituierter Mittelstand wohnen, wird nach außen hin immer proletarischer. Wir sind eine reine Arbeitergemeinde. 95 bis 97 Prozent ihrer Glieder gehören soziologisch gesehen zum Proletariat. Die übrigen 3 bis 5 Prozent werden gebildet durch kleine und mittlere Beamte, Kaufleute und Hauswirte... Angehörige höherer Gesellschaftsklassen wohnen in unserer Gemeinde nicht. Die höchste Beamtenkategorie ist die des Sekretärs. Das Dutzend Ärzte, das wir haben, ist rein jüdisch. Zwei Rektoren haben in der Gemeinde ihre Amtswohnung. Lehrer wohnen in diesen „schlechten" Viertel kaum drei oder vier. Infolge des wirtschaftlichen Umsturzes der letzten Jahre kann man gelegentlich Angehörige früher wohlhabender Kreise, die jetzt verarmt sind, bei uns antreffen. Eine Anzahl von Geschäftsleuten ist leidlich situiert, doch haben wir keinen einzigen reichen oder gar nur wohlhabenden Mann in der Gemeinde. Die eigentliche Masse der Bevölkerung besteht aus einer in verhältnismäßig geordneter Lage sich befindenden Arbeiterschicht, die vielfach in den benachbarten großen Fabriken arbeitet... Der gelernte Arbeiter verdient 50 bis 60 Mark in der Woche, der ungelernte 30 bis 40, die Fabrikarbeiterinnen kommen häufig über 15 bis 20 Mark nicht hinaus...
... In der Lebensführung legt man vor allen Dingen Wert auf gute Kleidung. Wenn man es sich leisten kann, wird auch einigermaßen gut gegessen. Sehr trübe sind dagegen die Wohnungsverhältnisse. Die Häuser sind Mietskasernen der achtziger und neunziger Jahre... Die meisten Wohnungen bestehen aus Stube und Küche, nach vorne heraus liegen meist Zwei-Zimmerwohnungen. Drei Zimmer sind selten, vier kommen nur in wenigen besseren Häusern vor. In einer Anzahl von Häusern befinden sich Wohnküchen, also Wohnungen, die nur aus einem einzigen Raum bestehen. Gelegentlich sind findige Wirte auf den Gedanken gekommen, jeden Raum der Wohnung einschließlich Flur einzeln zu vermieten. Hier wohnt dann das ärmste Proletariat. Dem System des Kreidestrichs (zwei Familien in einem Zimmer) bin ich aber bei uns noch nicht begegnet. Von Badeeinrichtungen kann nirgendwo die Rede sein. Das gemeinsame Klosett für die Bewohner eines Stockwerks (3 bis 4 Familien) befindet sich meist einen Treppenabsatz tiefer... Das übliche Bild des Familienlebens ist etwa dies: Der Vater verläßt früh das Haus, um zur Arbeit zu gehen, die ihn je nach Länge des Weges 10 bis 12 Stunden fernhält. Die Mutter sorgt für den Haushalt, der dadurch erschwert wird, daß von den erwachsenen Kindern oft jedes zu einer anderen Zeit von der Arbeit zurückkommt und dann die Hauptmahlzeit für sich einnimmt. Daß die Frau regelmäßig neben dem Mann in die Fabrik geht, ist bei den ungünstigen Verhältnissen des Arbeitsmarktes eine Ausnahme. Häufig hat sie aber noch eine Heimarbeit, oder sie geht gelegentlich zur Wäsche oder zur Aufwartung aus dem Hause. Am Abend pflegt der Vater noch diese oder jene häusliche Beschäftigung zu erledigen (Stiefelbesohlen, Küchenreparaturen, Nachsehen von Schularbeiten bei den kleineren Kindern), dann liest er seine Zeitung und geht früh zu Bett. Nur etwa 25 bis 30 Prozent der Arbeiterschaft lesen übrigens die im eigentlichen Sinne sozialistische Presse... Charakteristisch für das Proletarierviertel ist, daß der normale Typus der Familie (Vater, Mutter und Kinder aus der gemeinsamen Ehe) doch häufig stark gestört ist. Es gibt in den Familien sehr viel voreheliche und uneheliche Kinder. Man trifft auch viel Pflegekinder oder Kinder, die bei ihren Großeltern erzogen werden. In unserem armen Stadtteil wohnen auch viele Witwen mit so ihren Kindern, die auf Arbeit zu gehen genötigt sind. In diesen Familien machen sich die sozialen und sittlichen Nöte des Arbeiterquartiers besonders stark geltend.
Die politische Haltung der Bevölkerung ist ausgesprochen nach links hin gerichtet. Bei Wahlen ist die Zahl der abgegebenen kommunistischen Stimmen unbedingt überwiegend. Die älteren Arbeiter der großen Fabriken sind meist sozialdemokratisch, so auch die staatlichen oder städtischen Unterbeamten. Das Kleinbürgertum ist deutschnational.
Proletarische Jugend. Lebensgestaltung und Gedankenwelt der großstädtischen Proletarierjugend, Berlin 1929, S. 16-19
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